Tiere im Märchen: Der Wolf
Von den Tieren, die als bestimmte Typen im Märchen vorkommen (siehe Übersichtsartikel Tiere im Märchen), hat wohl keines ein so schlechtes Image wie der Wolf — zumindest im europäischen und besonders im deutschen Märchen. Im Märchen vom Rotkäppchen ist er ein gefräßiger, niederträchtiger und hinterhältiger Geselle, der sich nicht zu schade ist, seine Gier an einer alten, kranken Frau und einem arglosen, kleinen Mädchen zu stillen. Dabei geht er durchaus trickreich vor. Er fragt Rotkäppchen über ihr Ziel aus und ermuntert sie, die Mahnungen der Mutter zu missachten und Blumen zu pflücken. Dann legt er sich, als Großmutter verkleidet, in deren Bett, um Rotkäppchen zu packen und zu verschlingen. In der Fassung von Perrault (Le petit chaperon rouge) ist die Gefräßigkeit des Wolfes eine Metapher für die sexuelle Gier.
Ähnlich die Rolle des Wolfes im Märchen Der Wolf und die sieben Geißlein. Hier sind seine Opfer auf der Hut, denn von ihrer Mutter wissen sie, dass sie den Wolf fürchten müssen. Erst nach mehreren vergeblichen Anläufen gelingt es dem Wolf, die Geißlein zu täuschen. Er verschlingt sie alle, bis auf eines, das sich im Uhrenkasten versteckt. Jedoch reicht die Schläue des Wolfes nur eben bis zu dem Moment, in dem er sich den Magen gefüllt hat. Anstatt sich nach seiner räuberischen Tat in Sicherheit zu bringen, schläft er träge an Ort und Stelle ein. So wird er schließlich selbst zur Beute. In beiden Märchen ist es der Jäger, der den Wolf am Ende zur Strecke bringt.
Jäger und Wolf
In der Figur des Jägers spiegelt sich die wahre Natur des Wolfes. Denn der ist seinem Wesen nach selbst ein Jäger und somit ein Konkurrent des Menschen. Doch ist der Wettstreit zwischen Wolf und menschlichem Jäger in diesen Märchen auch in moralischer Hinsicht klar entschieden. Der Wolf jagt sozusagen aus niedrigen Instinkten, der Jäger hingegen, um für Ordnung und zivilisiertes Miteinander zu sorgen. Der Hauptgrund für die Unterlegenheit des Wolfes ist letztlich seine Dummheit, die mit den übrigen schlechten Eigenschaften einhergeht. Noch deutlicher wird der Wolf in verschiedenen Tiermärchen als dumm und gefräßig charakterisiert. Dabei wird ihm häufig der schlaue und maßvolle Fuchs gegenübergestellt (Der Wolf und der Mensch, Der Wolf und der Fuchs). Die Rollen von Fuchs und Wolf ähneln in diesen Märchen den Figuren Reineke und Isegrim aus dem Epos Reineke Fuchs.
Wölfe, Menschen, Märchen
Die so überaus negative Typisierung des Märchenwolfs muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass viele unserer Märchen vermutlich in der frühen Neuzeit jene Form annahmen, in der sie später verschriftlicht wurden. Eines der Kennzeichen für den Beginn dieser Epoche ist die starke wirtschaftliche Expansion. Dies bedeutete unter anderem, dass der Mensch einen immer größeren Teil der Fläche für die landwirtschaftliche Nutzung beanspruchte. Gleichzeitig wurde der natürliche Lebensraum des Wolfes immer mehr zurückgedrängt, zerschnitten oder eingeschränkt.
In der Folge kam es zu unangenehmen Begegnungen mit dem Wolf, sei es in Form von direkten Angriffen auf Menschen oder auch »nur« in Form von gerissenen Nutztieren (vor allem Schafen). Der Wolf wurde zur Projektionsfläche für vielfältige Ängste: vor dem Gefressenwerden, vor dem wirtschaftlichen Ruin und wohl auch vor den eigenen Trieben, die den Gegensatz zu der als erstrebenswert gesehenen Zivilisiertheit bildeten und die das ungezähmte, wilde Tier vor Augen führte. Mag der Wolf zuvor ein wildes, starkes und auch gefährliches Tier gewesen sein, dem man besser aus dem Wege ging, wandelte sich sein Image nun zu dem eines Schädlings, den es auszurotten galt.
Dämonisierung
Der wirtschaftliche Wandel in der frühen Neuzeit war begleitet von Krisen, Kriegen und Seuchen. Diese bildeten den Nährboden für Aberglauben und Hexenwahn (siehe Hexen im Volksglauben und im Märchen). Im Zuge dieser Entwicklung wurde der Wolf nicht einfach nur als (Wirtschafts-)Schädling gesehen, sondern geradezu dämonisiert. Die Metapher vom Hirten und den Lämmern weist dem Wolf im Christentum von jeher die Rolle des Bösen zu. Doch mussten offenbar erst mehrere Faktoren zusammenkommen, bevor aus einer problematischen, aber stabilen Koexistenz offene Feindschaft wurde. An den Mythos vom Werwolf anknüpfend, wurde der Wolf in direkte Verbindung mit Hexen und dem Teufel gebracht. Etwaige moralische Bedenken, dass man eines von Gottes Geschöpfen, selbst ein so unerquickliches wie den Wolf, nicht einfach auslöschen dürfe, konnten mit diesem »Argument« beiseite geschoben werden.
Die Ausrottung des Wolfes in Mitteleuropa erfolgte im Wesentlichen vom 16. bis ins 18. Jahrhundert. Im 19. Jahrhundert wurden nur noch wenige Wölfe gesichtet, sehr wahrscheinlich durchziehende Einzeltiere. 1904 wurde in der Lausitz ein als »Tiger von Sabrodt« bekannt gewordener Wolf erschossen. (Der Name rührt daher, dass man zunächst dachte, dass es sich um einem entlaufenen Zirkustiger handelt). Dieses Exemplar galt für lange Zeit als letzter freilebender Wolf auf deutschem Staatsgebiet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wanderten gelegentlich Einzeltiere ein. Ungefähr seit der Jahrtausendwende gibt es wieder eine wachsende Zahl von sich reproduzierenden Rudeln.
Die Wiederansiedlung des Wolfes in Mitteleuropa polarisiert. Dabei wirft die Pro-Wolf-Fraktion der Contra-Fraktion vor, einer Vorstellung vom Wolf anzuhängen, die dem Märchen von Rotkäppchen entstammt. Der umgekehrte Vorwurf lautet, die Freunde des Wolfes hätten romantische Vorstellungen von der Wildnis, wie sie nur Stadtmenschen haben können. Im historischen Maßstab sind diese unterschiedlichen Sichtweisen nichts Neues. Aufs Ganze gesehen (zeitlich und historisch) muss die Einstellung des Menschen zum Wolf als ambivalent bezeichnet werden; die stark negative Sichtweise in der frühen Neuzeit ist eher eine Ausnahme. Weder in der antiken, noch in der nordischen, germanischen oder keltischen Mythologie hat der Wolf eine so eindeutig negative Symbolik wie in der Bibel.
Ambivalenz
Die positive, mütterliche Seite hebt besonders die Legende von Romulus und Remus, den Gründern Roms hervor, die angeblich von einer Wölfin gesäugt und aufgezogen wurden. In der nordischen/germanischen Mythologie sind die beiden Wölfe Geri und Freki (»der Gierige« und »der Gefräßige«) Begleiter des Gottes Odin und symbolisieren vor allem Stärke und Macht. In der Rolle des starken Begleiters begegnet uns der Wolf in Märchen vom Typ der dankbaren Tiere (siehe Die dankbaren Tiere von Straparola, Die Zwei Brüder von den Brüdern Grimm). Hier steht er auf einer Stufe mit ebenfalls gefährlichen, aber edlen Tieren wie Löwe und Bär.
Eine grundsätzlich positivere Rolle spielt der Wolf in vielen russischen Märchen, die auf Märchenatlas leider noch etwas unterrepräsentiert sind. Doch bietet zumindest das ausführlich behandelte Märchen Iwan Zarewitsch, der Feuervogel und der graue Wolf ein besonders schönes Beispiel. Hier ist der Wolf der starke und zugleich kluge Ratgeber des Märchenhelden. Er übernimmt damit die Rolle, die in dem ähnlichen Märchen Der goldene Vogel der Brüder Grimm der Fuchs spielt.
Abschließend sei noch ein Märchen erwähnt, welches das Verhältnis des Wolfes zu seinem domestizierten Nachfahr, dem Hund, thematisiert. Freilich aus der nicht unparteiischen Sicht des Menschen. In Der alte Sultan klagt ein alter Hund dem Wolf, dass sein Herr, der Bauer, ihn demnächst erschießen will. Der Wolf ersinnt eine List, durch die sich der Hund in ein äußerst positives Licht rücken kann. Der Bauer kann nun nicht anders, als den treuen Hund zu verschonen und ihm einen angenehmen Lebensabend zu bereiten. Allerdings erwartet der Wolf nun vom Hund eine kleine Gegenleistung. Er möchte sich gern ein Schaf aus dem Stall des Bauern holen, und der Hund soll ihm dabei behilflich sein. Doch der Hund fühlt sich seinem Herrn verpflichtet, nicht dem Wolf. Es kommt zum Kampf zwischen den Haustieren (angeführt vom Hund) und den wilden Tieren (angeführt vom Wolf), der den erwarteten Ausgang nimmt.