Märchen

Was sind Märchen?

Märchen sind fantastische Erzählungen, die an Ort und Zeit nicht gebunden sind (dies unterscheidet sie von Sagen). Charakteristisch ist das Auftreten von Elementen des Zauberhaften – etwa durch Verwandlungen, sprechende Tiere oder die wundersame Erfüllung von Wünschen –, wodurch die Grenzen des Realen erzählerisch überwunden werden. Meist zielt das Märchen auf die glückliche Lösung des zugrundeliegenden Konflikts und spiegelt das Wunschdenken von Erzählern und Zuhörern wider.

Märchenbuch (Cover), Offterdinger, Leutemann
Buchcover (1889): »Mein erstes Märchenbuch«, von C. Offterdinger und H. Leutemann

In Deutschland wird mit dem Begriff Märchen vor allem die Sammlung der Brüder Wilhelm und Jacob Grimm (Kinder- und Hausmärchen) assoziiert. Die Grimmschen Märchen sind ein typisches Beispiel für Volksmärchen: Erzählungen, die nach langer mündlicher Überlieferung und damit einhergehender Wandlung irgendwann in einer bestimmten Form schriftlich fixiert und dadurch kanonisiert wurden. Gleichzeitig sind sie ein typisches Beispiel für Märchen, die einen zentralen Bestandteil der Kinder- und Jugendliteratur bilden. Dieses Merkmal, bedingt durch einfache Erzählstrukturen und einfache, oft holzschnittartige Charakterisierung der Protagonisten, ist allerdings nicht allen Volksmärchen zueigen. Es gilt zum Beispiel nicht für die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht.

Volksmärchen vs. Kunstmärchen

Allgemein wird zwischen Volksmärchen und Kunstmärchen unterschieden. Volksmärchen sind die traditionelle Form des Märchens. Sie stammen aus mündlicher Überlieferung und haben daher selten eine feste Form, sondern »leben« in unterschiedlichen Varianten. Durch Märchensammler wie die Brüder Grimm wurden sie zu einem bestimmten Zeitpunkt schriftlich festgehalten und werden in dieser Form mitunter als »das Original« des jeweiligen Märchens betrachtet. 

Märchensammler und Märchenautoren

Eine solche Festlegung wäre jedoch willkürlich. Zum einen wurden viele Märchen von mehreren Märchensammlern in ihrer jeweils eigenen Version festgehalten. So finden sich zum Beispiel viele Märchenstoffe in unterschiedlichen Versionen sowohl in den Grimmschen Kinder- und Hausmärchen als auch in den Märchensamlungen von Ludwig Bechstein. Zum anderen hat wohl kaum je ein Märchensammler einfach das aufgeschrieben, was ihm lokale Märchenerzähler vorgetragen haben. Vielmehr wurden die Märchen im Zuge der Verschriftlichung teilweise umfangreich bearbeitet und in erzieherischer Absicht dem Zeitgeschmack angepasst. Außerdem liegen vielen verschriftlichten Märchen mehrere mündliche Quellen zugrunde, deren Beziehung untereinander ungeklärt ist. Darüber hinaus wurden auch Stoffe aus älteren schriftlichen Quellen übernommen.

So schöpften beispielsweise sowohl die Grimms als auch Bechstein aus der Sammlung des Franzosen Charles Perrault (Contes de ma mère l’Oye, 1697). Diese enthält unter anderem das Märchen von Aschenputtels französischer Schwester Cendrillon (englisch Cinderella). Perrault wiederum nutzte außer seinen mündlichen Quellen die noch älteren Sammlungen der Italiener Giovanni Francesco Straparola (Le piacevoli notti, 1550-1553) und Giambattista Basile (Il Pentamerone, postum 1634-1636).

Volksmärchen und Nationalliteratur

Die mündliche Überlieferung und Verbreitung von Märchen ist bei vielen Völkern belegt. Die kurz angerissene Quellengeschichte der Grimmschen Märchen macht bereits deutlich, dass gängige Kategorisierungen wie „deutsche, französische, italienische … Märchen“ mit Vorsicht zu genießen sind, weil ihnen Konzepte (wie die des Nationalstaats) zugrunde liegen, die deutlich jünger sind als die Märchenstoffe selbst. Mit Geschichte, Herkunft und Kategorisierung der Volksmärchen befasst sich die Märchenforschung.

Das Märchen in der Literatur

Im Gegensatz zum Volksmärchen ist jedes Kunstmärchen das Werk eines eindeutigen Verfassers und im Wortlaut festgelegt. Die Verbindung zum Volksmärchen liegt vor allem in der Präsenz des Zauberhaften, Wunderbaren und Phantastischen. Deutlich unterscheidet sich das Kunstmärchen vom Volksmärchen hinsichtlich der Komplexität und oft auch in der Länge der Erzählung. Typisch ist die detailreiche Ausarbeitung der Charaktere der Protagonisten, die mit dem »Holzschnittartigen« der (Volks-)Märchenfiguren kontrastiert. Letztere sind eher Typen als Personen. Dagegen ist der Held des Kunstmärchens eine echt und lebendig wirkende Person ist, die ungeachtet ihrer magischen Begegnungen oder Fähigkeiten fest in der Realität verwurzelt ist. Eine Bindung an Ort und Zeit ist im Kunstmärchen zumindest vage vorhanden, manchmal auch explizit benannt. Zum Beispiel spielt E.T.A. Hoffmanns Goldner Topf in Dresden, Wilhelm Hauffs Kaltes Herz im Schwarzwald.

Märchen als Grundlage der phantastischen Literatur

Die Mittel des Phantastischen werden vom Autor bewusst als Mittel zur Überwindung von Zwängen eingesetzt (die beiden zuvor genannten Beispiele) oder dienen der Erschaffung einer schöneren, gerechteren und weniger mühebeladenen (Traum-)Welt, die dann allerdings oft der realen Welt unterliegt. Letzteres findet sich in vielen Märchen von Hans Christian Andersen (z.B. Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen, Die Schneekönigin) und bei Oscar Wilde (z.B. Der glückliche Prinz, Die Nachtigall und die Rose). Hier entwirft der Autor mithilfe des Phantastischen eine Utopie, deren Scheitern über die erzählerische Verbindung mit dem Realen auf konkrete Missstände zurückgeführt wird. Viele Kunstmärchen von Andersen, Hauff, Theodor Storm oder Oscar Wilde sind deshalb weniger als „Weltflucht“, sondern vielmehr als konkrete Sozialkritik zu lesen.

Märchen und Romantik

Das Kunstmärchen hat in der Romantik einen deutlichen Höhepunkt (vor allem in der deutschen). Vereinzelt tritt es aber schon sehr viel früher auf (z.B. Apuleius: Amor und Psyche) und hat in der Literatur des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart vielfältige Nachfolge gefunden. Zu nennen ist hier vor allem die Fantasy-Literatur mit ihren vielen Sub-Genres (Dark Fantasy: Grusel/Horror, Science Fantasy: Märchen meets Science Fiction, Parodie: z.B. die Zamonien-Romane von Walter Moers), aber auch der magische Realismus mit Vertretern wie Miguel Ángel Asturias (Die Maismenschen), Michail Bulgakow (Der Meister und Margarita), Angela Carter (Blaubarts Zimmer, Nächte im Zirkus), Gabriel Garcia Marquez (Hundert Jahre Einsamkeit, Von der Liebe und anderen Dämonen) oder Salman Rushdie (Harun und das Meer der Geschichten, Die schöne Florentinerin).

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