Das singende, springende Löweneckerchen

Das singende, springende Löweneckerchen ist ein Märchen der Brüder Grimm (Kinder- und Hausmärchen, KHM 88); Märchentyp ATU 425: Suche nach dem verlorenen Ehemann. Siehe auch Von dem Sommer- und Wintergarten, East of the sun and west of the moon, La Belle et la Bête (Beauty and the Beast, Die Schöne und das Biest).

Illustration von Arthur Rackham zu dem Märchen Das singende, springende Löweneckerchen
Das singende, springende Löweneckerchen. Illustration Arthur Rackham (The Fairy Tales of the Brothers Grimm, Constable, 1909)

Inhalt

Ein Mann hat drei Töchter, und als er auf eine längere Reise geht, darf sich jede etwas wünschen. Die erste wünscht sich Perlen, die zweite Diamanten. Die jüngste aber wünscht sich etwas Lebendiges, ein Löweneckerchen (Lerche). Als der Mann wieder auf der Heimreise ist, hat er zwar die Perlen und die Diamanten im Gepäck, aber das Geschenk für die Jüngste hat er vergessen. Kurz vor seiner Heimkehr sieht er in einem Garten doch noch ein Löweneckerchen und befiehlt seinem Diener, es zu fangen.

Da springt ein sprechender Löwe herbei und bedroht den Mann, weil der ihm sein Löweneckerchen nehmen wollte. Der Mann fleht um sein Leben, das ihm der Löwe unter einer Bedingung schenkt. Er verlangt für sich das erste Lebendige, das dem Mann daheim begegnet. Wohl hat der Mann Angst um seine jüngste Tochter, die ihn so lieb hat, dass sie ihm oft entgegen läuft. Doch mit dem Gedanken, es könnte ebenso gut ein Hund oder eine Katze ihn als erstes begrüßen, tröstet er sich und rettet sein Leben.

Natürlich ist es dann doch die jüngste Tochter. Der Vater ist untröstlich, doch das Mädchen fügt sich furchtlos in ihr Schicksal. Der Löwe erweist sich als verzauberter Prinz, der nachts seine wahre Gestalt annimmt, tagsüber aber als Tier leben muss. Das Mädchen und der Prinz heiraten und leben glücklich, aber sehr zurückgezogen.

Als die älteste Schwester heiratet, darf die junge Frau ihre Familie besuchen, die sie längst verloren glaubte. Bald heiratet auch die mittlere Schwester, und diesmal will die Jüngste nicht alleine gehen, sondern ihren Mann mitnehmen. Der sträubt sich zunächst, denn wenn brennendes Licht (Kerzenlicht) ihn trifft, muss er sieben Jahre lang als Taube leben. Schließlich gibt er dem Bitten seiner Frau nach. Es wird für ihn ein fensterloser Saal gemauert, in dem er sicher ist. Doch das frische Holz der Tür bekommt einen schmalen Riss, den niemand bemerkt. Und so ereilt den Prinzen das befürchtete Schicksal, als ein Lichtstrahl durch die Ritze dringt.

Sieben Jahre fliegt er als Taube, und seine treue Frau folgt ihm durch die ganze Welt, um ihn zu erlösen. Alle sieben Schritt lässt die Taube einen Blutstropfen und eine Feder fallen, damit die Geliebte den Weg nicht verliert. Doch als die Zeit schon fast um ist, verliert sie die Spur der Taube. Sie geht bis zur Sonne, zum Mond und zum Nachtwind, um nach ihrem Liebsten zu fragen. Sonne und Mond schenken ihr Zaubergaben, die ihr später einmal von Nutzen sein könnten. Vom Verbleib der Taube aber wissen sie nichts. Auch der Nordwind weiß nichts, wohl aber einer seiner Freunde, der Südwind.

Demnach kämpft die Taube (der verwunschene Prinz) mit einem Lindwurm (einer verwunschenen Prinzessin). Die Frau könne ihrem Mann helfen, wenn sie den Lindwurm mit einer ganz bestimmten Rute schlägt. So geschieht es, doch kaum dass der Lindwurm besiegt ist, wird er zur Prinzessin, die er vor seiner Verwandlung war. Diese betrachtet den Prinzen (der seine Tiergestalt ebenfalls abgelegt hat) als ihren rechtmäßigen Bräutigam. Mithilfe der Geschenke von Sonne, Mond und Nachtwind gelingt es der treuen, mutigen Frau, die Hochzeit ihres Mannes mit der falschen Braut zu verhindern und ihn für sich zurückzugewinnen.

Anmerkungen

Die Märchenforschung führt Das singende, springende Löweneckerchen als Märchen vom Typ AaTh 425 (Aarne-Thompson-Index) — Suche nach dem verlorenen Ehemann. Doch auch wenn die Treue und Unerschrockenheit der Ehefrau beeindruckend ist, kann eine solche Einordnung sicher nur einen kleinen Teil dieses Märchens erfassen, das wohl gerade wegen seines Reichtums an Motiven zu den schönsten und variantenreichsten im internationalen Märchenschatz gehört. Im Folgenden der Versuch einer Motivsammlung.

  • Der Vater besorgt Geschenke für seine auf Äußerlichkeiten bedachten älteren Töchter, vergisst aber beinahe den bescheidenen Wunsch der Jüngsten. Dieses Motiv kennen wir vor allem aus Aschenputtel, wo die beiden Älteren die Stieftöchter des Mannes sind. Der Wunsch der Jüngsten dagegen (ein Reis vom Haselstrauch) ist eher imateriell, etwas, das sie mit ihrer verstorbenen Mutter verbindet.
  • Der vom Löwen bedrohte Vater rettet sein Leben, indem er seine Tochter opfert. Diese Geschichte finden wir bereits im Alten Testament (Buch der Richter …), wo der Richter Jiftach für den Fall des Sieges über die Ammoniter gelobt, das erste Wesen zu opfern, das ihm vor seiner Tür begegnet.
  • Das sich-Freikaufen in einer Notsituation durch das Versprechen, dem Bedränger ein eigenes Kind zu überlassen finden wir u.a. in Rapunzel (ungeborenes Kind) und Rumpelstilzchen (noch nicht gezeugtes Kind).
  • Der Bräutigam (Löwe/Prinz) gewinnt seine Braut nicht durch Liebe, sondern durch Nötigung. Ähnlich in Der Froschkönig, siehe aber auch Allerleirauh. Das Schöne am Löweneckerchen ist natürlich, dass die Frau dann doch tiefe Liebe für ihren Mann empfindet, die weder vor der gesellschaftlichen Ausgrenzung noch vor einer Konkurrentin in Gestalt eines Lindwurms kapituliert.
  • Die Wanderung auf der Suche nach einem geliebten Menschen, durch die ganze Welt (Suchwanderung) nach vorangegangenem Bruch eines Versprechens tritt bereits in dem antiken Märchen von Amor und Psyche auf, weitere Beispiele siehe in diesen beiden Artikeln.
  • Das Erkennen der rechten Braut (Ehefrau) steht am Ende so unterschiedlicher Märchen wie Der Liebste Roland, Die drei Männlein im Walde, Der Eisenofen, Die Gänsemagd und Allerleirauh.

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