Allerleirauh

Allerleirauh ist ein Märchen der Brüder Grimm (Kinder- und Hausmärchen, KHM 65). Das Märchen ist in manchem dem weitverbreiteten Typus des Aschenputtel-Märchens ähnlich. Jedoch geht es hier nicht um die Behauptung eines Mädchens gegenüber ihren Stiefschwestern und der Stiefmutter, sondern um einen Vater-Tochter-Konflikt. Der Vater begehrt die Tochter, was in manchen Varianten durch die Erklärung verschleiert wird, es ginge um die Sicherstellung der Thronfolge. In anderen Varianten steht das Gewalttätige im Vordergrund (Das Mädchen ohne Hände, Die Manekine), was bei Allerleirauh lediglich angedeutet ist (Stiefel an den Kopf werfen). Ähnliche Märchen sind auch in den Märchensammlungen von Charles Perrault (Eselshaut) und Giambattista Basile (Die Bärin) enthalten.

AT 510B

Illustration von Arthur Rackham zu dem Märchen Allerleirauh
Catskin (Englische Variante von Allerleirauh). Illustration Arthur Rackham (English Fairy Tales by Flora Annie Steel, Macmillan New York, 1918)

Inhalt

Ein König verspricht seiner im Sterben liegenden Frau, nur dann wieder zu heiraten, wenn die neue Frau ebenso schön ist wie sie. Da die Königin sehr schön war, scheint eine zweite Ehe lange Zeit unmöglich. Doch dann fällt das Auge des Königs auf die eigene Tochter, die ihrer Mutter an Schönheit nicht nachsteht. Zum Entsetzen aller Hofräte begehrt der König seine Tochter zur Frau. Die Königstochter versucht, sich dem Inzest zu entziehen, indem sie allerlei Wünsche an den Vater richtet, die sie für unerfüllbar hält: drei Kleider (silbern wie der Mond, golden wie die Sonne und glänzend wie die Sterne) und schließlich einen Mantel aus tausenderlei Pelz (»Rau(c)hwerk«).

Der Vater lässt nicht von ihr ab und erfüllt alle ihre Wünsche. Deshalb flieht sie schließlich aus dem elterlichen Schloss. Außer den Kleidern und dem Mantel nimmt sie drei goldene Gegenstände mit: einen Ring, ein Spinnrädchen und eine Haspelchen (Gerät zum Aufwickeln von Garn). Sie bedeckt ihr Gesicht mit Ruß, hüllt sich in den seltsamen Pelzmantel und versteckt sich in einem hohlen Baum. Sehr bald wird sie von den Jägern des Königs aufgegriffen, welchem dieser Wald gehört. Wegen ihres seltsamen Aussehens, mehr Tier als Mensch, nennt man sie nun Rauhtierchen oder Allerleirauh. Sie verrichtet in der Schlossküche die niedrigsten Arbeiten — und zieht dem König die Stiefel aus, die er ihr jedesmal an den Kopf wirft.

Als aber auf dem Schloss ein Fest stattfindet, bittet sie den Koch, zuschauen zu dürfen. Sie wäscht ihr Gesicht, legt ihr Kleid von der Farbe der Sonne an und tanzt mit dem König. Der ist geblendet von ihrer Schönheit. Nach dem Tanz verschwindet sie schnell und hüllt sich wieder in Sack und Asche. Sie kocht dem König eine Suppe, in die sie den Ring fallen lässt. Die Suppe schmeckt dem König so gut, dass er sich nach ihr erkundigt. Doch sie antwortet, sie wäre nur dafür gut, dass man ihr die Stiefel an den Kopf wirft. Das Ganze wiederholt sich dreimal (mit den anderen Kleidern und den anderen Pretiosen), bis der König sie schließlich erkennt.

Der König aber sprach »du bist meine liebe Braut, und wir scheiden nimmermehr von einander«. Darauf ward die Hochzeit gefeiert, und sie lebten vergnügt bis an ihren Tod.

Anmerkungen

Auch wenn die öffentliche und mediale Erregung oft etwas anderes suggeriert: Inzest und häusliche, sexuell motivierte Gewalt waren schon immer ein Thema. Angesichts der großen Popularität gerade der Grimmschen Märchen scheint es verwunderlich, dass die brisante Geschichte von Allerleirauh nicht diesbezüglich im kollektiven Bewusstsein verankert sein sollte. Freilich enthält die Version der Brüder Grimm einige »beschwichtigende« Elemente. Vor allem nimmt der zweite Teil des Märchens keinen direkten Bezug auf Allerleirauhs Erfahrung mit dem Vater, ganz so, als wäre diese Lebensphase mit der Flucht aus dem väterlichen Reich einfach abgehakt.

Doch Allerleirauh kann sich offenbar auch nach ihrem Fortgang nicht wirklich vom Vater lösen. Hierfür sprechen nicht zuletzt die Kleider, mit denen der Vater ihr Jawort erkaufen wollte. Die Verwendung der Kleider, um als Schönste auf dem Ball das Interesse des jungen Königs zu wecken, erinnert an Aschenputtel. Doch dort stehen die Kleider für die Verbindung mit der sie liebenden, verstorben Mutter. Bei Allerleirauh dagegen sind sie Erinnerungsstücke an den vom Vater angetragenen Inzest und insofern beschmutzt.

Irritierend ist auch, dass der junge König ihr gewohnheitsmäßig seinen Stiefel an den Kopf wirft und sie dazu meint, sie hätte nichts anderes verdient. Hier liegt die Vermutung nahe, dass sie sich selbst die Schuld am inzestuösen Begehren des Vaters gibt. Auch der Koch nennt sie eine Hexe, weil sie den König mit ihrer Suppe so beeindruckt, dass er nach ihr fragt. Insgesamt kann der Eindruck entstehen, dass bei diesem Märchen etwas Ungeheuerliches letztlich unausgesprochen bleibt.

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