Tiere im Märchen: Huhn und Hahn

Von der Symbolik her sind Henne und Hahn sehr unterschiedlich, obwohl sie als weiblicher bzw. männlicher Vertreter des Haushuhns (Züchtung aus dem ostasiatischen Bankivahuhn) der gleichen Art angehören. Trotz dieser Verschiedenheit sollen sie hier zusammen behandelt werden, da ein großer Teil der Unterschiede aus dem asymmmetrischen Geschlechterverhältnis resultiert.

Huhn und Hahn gehen zusammen Nüsse fressen. Illustration von Arthur Rackham zu dem Märchen Das Lumpengesindel von den Brüdern Grimm
Das Lumpengesindel. In diesem Märchen gehen Huhn und Hahn zusammen Nüsse fressen. Illustration Arthur Rackham. (The Fairy Tales of the Brothers Grimm, Constable, 1909)

Geschlechterrollen

Viele Redensarten über den Hahn und das Huhn spiegeln überkommene Geschlechterklischees wider. Der »Hahn im Korb« ist als einziger Vertreter seines Geschlechts der unangefochtene Mittelpunkt der Hühnerschar. Allerdings steht und fällt sein Status mit der Exklusivität, mit der die Hühner ihm sexuell zur Verfügung stehen. Etwas aus der Mode gekommen ist das Wort »Hahnrei« für einen Mann, dessen Ehefrau »fremd gegangen« ist. Es bezeichnet in seiner ursprünglichen Bedeutung einen kastrierten Hahn (Kapaun). Auch der Ausdruck, jemandem »Hörner aufsetzen« bezieht sich auf den kastrierten Hahn. (Und nicht, wie man meinen könnte, auf den Hirsch oder einen anderen Geweihträger.) Beim Kastrieren wurden den Hähnen die Sporen abgeschnitten und auf dem Kamm wieder eingepflanzt. Das Ergebnis sah wie Hörner aus und diente auf dem Hühnerhof dazu, Kapaune von fortpflanzungsfähigen Hähnen zu unterscheiden.

Kampfhähne und Gockel

Allgemein steht der Hahn allgemein für Angriffslust, Fruchtbarkeit, Potenz und auffällige Männlichkeit. Allerdings verweist der eher despektierlich gemeinte Begriff »Gockel« auf die Kehrseite der Medaille. Offensiv zur Schau getragene Männlichkeit, Machogehabe und an Hahnenkämpfe erinnerndes Gebaren gegenüber vermeintlichen Konkurrenten sind männliche Verhaltensweisen, die als lächerlich gelten, anstatt dem jeweiligen »Hahn« zur Ehre zu gereichen. Doch auch als Gockel ist der Hahn noch immer eine Persönlichkeit – im Gegensatz zu den Hühnern, die oft als geistlose Kollektivwesen (»Hühnerschar«) wahrgenommen werden. Im Aberglauben spielen besonders der schwarze Hahn (Symbol des Teufels) und der rote Hahn (Feuersbrunst, Vernichtung von Hab und Gut) eine Rolle.

Wächter und Verkünder des Lichts

Neben dem ausgeprägten Fortpflanzungstrieb und der Angriffslust des Hahns ist vor allem sein Krähen wichtig, wenn es gilt, die Bedeutung eines Hahns in einem Traum (oder auch im Märchen) zu entschlüsseln. An der Grenze zwischen Nacht und Tag verkündet der Hahn mit seinem Krähen eine neue Phase des Lichts und der Aktivität. Die Psychoanalyse sieht den Hahn ebenso an der Grenze zwischen Unbewusstem und Bewusstem. In diesem Sinne ist das Krähen des Hahns im Traum ein Zeichen, dass etwas aus dem Unbewussten »ans Licht drängt«. Der Träumer kann es also als Aufforderung verstehen, sich aktiv damit auseinanderzusetzen.

In der Bibel (Matthäusevangelium) ruft der Hahn mit seinem Krähen Petrus seinen Verrat an Jesus ins Bewusstsein. Jesus hatte zuvor prophezeit: »Wahrlich, ich sage dir, dass du in dieser Nacht, ehe der Hahn kräht, mich dreimal verleugnen wirst«. Und wenige Stunden später hat Petrus tatsächlich dreimal behauptet, Jesus nicht zu kennen. Als er das Krähen hört, erinnert er sich an Jesus Worte und »weint bitterlich«.

Gackernde, dumme und blinde Hühner

Die gehobene Position, die der Hahn in der Symbolhierarchie einnimmt, steht ganz im Gegensatz zur Bedeutungslosigkeit des Huhns (was seinen Symbolgehalt betrifft). Redewendungen wie »dumme Hühner«, »Gegacker« und »aufgescheuchter Hühnerhaufen« zeugen von Geringschätzung der intellektuellen Fähigkeiten nicht nur von Hühnern. Gegenbeweise in Form von Erfolg werden nicht akzeptiert. Denn: »Auch ein blindes Huhn findet manchmal ein Korn«. Selbst die nicht zu bestreitende Nutzleistung des Huhns wird abgewertet, indem das Gegacker des Huhns um jedes gelegte Ei als übertrieben betrachtet wird. Noch schlimmer ist natürlich das Gegacker um »ungelegte Eier«. Will etwa das Huhn, von dem Bescheidenheit erwartet wird, auf die Selbstverständlichkeit aufmerksam machen, dass es grundsätzlich in der Lage ist, Eier zu legen? Oder meint es gar, das Krähen des stolzen Hahns nachahmen zu können?

Henne und Ei

Ungeachtet dieser Schlechterstellung gegenüber dem Hahn hat die Henne überwiegend positive symbolische Bedeutung. Dies liegt natürlich vor allem an ihrer unmittelbaren Verbindung mit dem Ei, das als Sinnbild für den ganzheitlichen Charakter der Schöpfung zu sehen ist. Gerade auch im Märchen spielt die Henne vor allem durch ihre Fähigkeit, Eier zu legen, eine Rolle. Der Besitz einer oder mehrerer Hennen schützt vor bitterster Armut. Und wem das Schicksal eine Henne zuspielt, die goldene Eier legt, dem ist Glück und Wohlstand sicher – sofern er gut auf sie aufpasst.

Spiegelbildlich zum Gockel als Abwertung des Hahns ist die Bezeichnung »Glucke« eine Aufwertung des Huhns. Die Glucke breitet beschützend ihre Flügel über die Küken, was sie zum Sinnbild für den Schutz der Schwachen macht. Jesus vergleicht sich im Matthäusevengelium selbst mit einer Henne (»… Jerusalem, Jerusalem, [..] wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel; und ihr habt nicht gewollt!«). Außerdem steht die Glucke durch die große Ausdauer, mit der sie ihre Eier ausbrütet, für Beharrlichkeit. Entsprechend meint die von der Henne abgeleitete Redewendung »über etwas brüten« die Beharrlichkeit im Zusammenhang mit einer schöpferischen Leistung.

Märchen mit Hahn und Huhn (Beispiele)

Im Folgenden einige Beispiele für die Figuren Hahn und Huhn im Märchen:

  • Die Bremer Stadtmusikanten. Hier steht der Stolz des Hahns im Vordergrund, der von seinem Besitzer ausgemustert wurde und im Suppentopf landen soll. Der Hahn wagt, zusammen mit anderen Gedemütigten, den Aufbruch zu etwas völlig Neuem, wobei ihm seine Angriffslust beim Kampf mit den Räubern sehr zu Passe kommt.
  • Die drei Glückskinder. Einer von drei Brüdern macht sein Glück, indem er sein einziges Erbstück, einen Hahn, an ein Inselvolk verkauft, bei dem Hähne noch gänzlich unbekannt sind.
  • Der Hahnenstein. In diesem Märchen von Giambattista Basile (siehe Pentameron) erlebt der Hahn den größten Teil der Handlung selber nicht mehr, denn in seinem Kopf befindet sich ein Zauberstein, der alle Wünsche erfüllt. Also wird er geschlachtet, um an den Stein zu kommen. Hier steht der Hahn für den Neubeginn, der für seinen Besitzer, einen bettelarmen Mann, möglich wird.
  • Hans mein Igel. Hans ist ein Junge, der in einem Stachelkleid geboren wurde. Im Zuge seiner Emanzipation benutzt er einen Hahn (Symbol für Potenz, Männlichkeit, Kampfbereitschaft) als Reittier.
  • Jack und die Bohnenranke. Jack klettert an der Bohnenranke bis zum Himmel und stiehlt dort das Huhn, das goldene Eier legt. Damit sichert er das Auskommen für sich und seine Mutter.
  • Das Lumpengesindel und Von dem Tode des Hühnchens. In diesen schwankartigen Märchen treten Huhn und Hahn als komische Figuren mit übertriebener Typisierung auf (dummes Huhn, dominanter Hahn). Abweichend von den Verhältnissen auf dem realen Hühnerhof werden Huhn und Hahn dabei als Paar dargestellt, also vermenschlicht, ohne die Asymmetrie im Geschlechterverhältnis ganz aufzugeben.
  • Das Waldhaus. Ein junges Mädchen verirrt sich in das Haus eines alten Mannes, der dort mit einem Hühnchen, einem Hähnchen und einer Kuh zusammenlebt. Sie versorgt nicht nur den alten Mann, sondern auch die Tiere, die für Aspekte wie Fürsorglichkeit (Huhn), Erwachen des sexuellen Bewusstseins (Hahn) und Weiblichkeit (Kuh) stehen könnten.

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