Von dem Machandelboom

Von dem Machandelboom ist ein Märchen der Brüder Grimm (Kinder- und Hausmärchen, KHM 47). Es geht wie das Märchen vom Fischer und seiner Frau auf Philipp Otto Runge zurück und ist wie dieses auf plattdeutsch verfasst. Der »Machandelboom« ist ein Wacholderbaum. Auffällig sind die langen Reime im Lied des Vogels. — Das Märchen verbindet das Motiv der bösen Stiefmutter, die das Kind aus der ersten Ehe ihres Mannes hasst (vgl. Schneewittchen, Aschenputtel), mit dem des Verzehrs von Menschenfleisch (vgl. Schneewittchen, Hänsel und Gretel).

Illustration von Warwick Goble zu dem Märchen Von dem Machandelboom
Von dem Machandelboom. Illustration Warwick Goble (The Fairy Book, Dinah Craik, Macmillan, 1913)

Inhalt

Ein wohlhabendes Ehepaar wünscht sich ein Kind, kann aber lange keins bekommen. An einem Wintertag steht die Frau im Hof unter dem Machandelboom und schneidet sich beim Schälen eines Apfels in den Finger. Als sie das Blut in den Schnee tropfen sieht, seufzt sie: Hätte ich doch ein Kind, so rot wie Blut und so weiß wie Schnee.

Nachdem sie das gesagt hat, fühlt sie sich auf einmal ganz froh. In den nächsten Monaten blüht sie auf wie die erwachende Natur. Immer wieder steht sie unter dem Machandelboom, sieht die Zweige ausschlagen, die Blüten aufgehen, verwelken und zur Erde fallen, hört die Vögel singen und genießt den würzigen Duft der Wacholderbeeren. Im siebenten Monat isst sie von den Beeren und wird davon traurig und krank. Im achten Monat erfasst sie eine dunkle Ahnung. Sie bittet ihren Mann, sie unter dem Machandelboom zu begraben, wenn sie stirbt. Nach neun Monaten bringt sie einen Jungen zur Welt und stirbt bei der Geburt.

Der Witwer heiratet nach der Trauerzeit erneut. Mit der zweiten Frau bekommt er eine Tochter, Marlenchen. So sehr die Frau ihr Töchterchen liebt, so sehr kommt ihr die Galle hoch, wenn sie den Stiefsohn nur sieht. Eines Tages bittet Marlenchen die Mutter um einen Apfel. Als sie fragt, ob der Bruder nicht auch einen bekommen sollte, wird die Frau von ihrem Hass überwältigt. Sie bietet dem Jungen scheinheilig an, nach oben in ihre Kammer zu gehen und sich einen der Äpfel zu nehmen, die sie in einer Kiste mit einem schweren Eisenschloss aufbewahrt. Als sich der Junge über die Kiste beugt, schlägt sie den Deckel zu und trennt ihm damit den Kopf ab.

Als sie das Ergebnis ihrer Boshaftigkeit sieht, wird sie panisch. Sie setzt dem toten Jungen den Kopf wieder auf und legt ein Tuch um seinen Hals. So setzt sie ihn auf einen Stuhl vor dem Haus und legt ihm noch einen Apfel in die Hand. Marlenchen spricht ihren Bruder an und bekommt keine Antwort. Sie fragt ihre Mutter, was mit dem Bruder los ist. Die sagt ihr, sie solle es noch einmal versuchen, und ihm, wenn er wieder nicht antwortet, eine Ohrfeige geben. Das tut Marlenchen denn auch, aber — oh weh! — da fällt sein Kopf ab.

Marlenchen fühlt sich, wie von der Mutter beabsichtigt, schuldig am Tod ihres Bruders. Weinend hilft sie ihrer Mutter die Tat zu vertuschen, indem sie aus dem Leichnam des Bruders Sauerfleisch (eine Art Sülze) herstellen. Die schaurige Speise wird dem Vater aufgetischt, zusammen mit der Lüge, der Junge sei für ein paar Wochen zu den Verwandten seiner Mutter gegangen. Dem Vater schmeckt das Essen so gut, dass nur die Knochen übrig bleiben. Marlenchen, die die ganze Zeit über geweint hat, sammelt die Knochen ein und legt sie in ihr liebstes Seidentuch. Das Tuch mit den Knochen legt sie unter den Wacholderbaum.

Kaum hat sie das Tuch ins Gras gelegt, da wird ihr leicht zumute, als würde alle Traurigkeit von ihr abfallen. Die Zweige des Wacholderbaums bewegen sich, als wären es Arme. Aus dem Baum steigt ein Nebel, und in dem Nebel brennt ein Feuer, und aus dem Feuer erhebt sich ein schöner Vogel. Dann ist alles wie vorher, nur das Tuch mit den Knochen ist weg. Der Vogel fliegt zum Haus eines Goldschmieds und singt so wunderschön, dass der Goldschmied seine Arbeit unterbricht und mitsamt der Kette, an der er gerade arbeitet, vors Haus läuft. Der Vogel singt davon, dass er von seiner Mutter getötet und sein Fleisch von seinem Vater gegessen wurde, sowie von Marlenchen, das seine »Beenchen« eingesammelt hat.

Der Mann versteht die Worte nicht, doch ihm gefällt das Lied so gut, dass er dem Vogel die Kette schenkt, um das Lied ein zweites Mal zu hören. Der Vogel fliegt weiter zu einem Schuster und einem Müller, von denen er ein Paar roter Schuhe und einen Mühlstein als Belohnung für seinen Gesang bekommt. Dann kehrt er zum Haus mit dem Wacholderbaum im Garten zurück.

Den Bewohnern wird beim Gesang des Vogels ganz anders, doch jedem auf eine ganz andere Weise. Marlenchen weint ihre ganze Schürze nass. Der Vater wird von einem unerklärlichen Glücksgefühl erfasst, die Mutter dagegen von brennender Angst. Nacheinander treten sie vors Haus, weil der Gesang sie magisch anzieht. Auf den Vater lässt der Vogel die dicke Goldkette fallen. Marlenchen bekommt die roten Schuhe und verliert, als sie sie anzieht, augenblicklich ihre Traurigkeit. Die boshafte Mutter aber wird von dem Mühlstein erschlagen. Aus dem aufsteigenden Staub lodern Flammen, und als diese wieder verlöschen, steht an dieser Stelle der lebendige Junge. Die Kinder leben in Frieden mit ihrem Vater.

Motive, ähnliche Märchen

Der Anfang des Märchens (Kinderwunsch, Blutstropfen im Schnee) erinnert stark an Schneewittchen. Wie dort stirbt die leibliche Mutter bei der Geburt, in diesem Fall des Jungen. Der Baum, unter dem die Mutter begraben wird, symbolisiert wie in Aschenputtel die Verbindung mit der leiblichen Mutter über den Tod hinaus. Der Vogel steht für die Seele des ermordeten Jungen, das Feuer für seine Wiedergeburt (siehe Phönix).

Der Stiefmutter ist das Kind ihrer Vorgängerin ein Dorn im Auge. Während Schneewittchens Stiefmutter glaubt, das Herz des getöteten Mädchens zu essen, tritt im Machandelbaum das Kannibalismus-Motiv in der Form auf, dass der Vater, ohne es zu wissen, das Fleisch seines eigenen Kindes isst. Das schauerliche Motiv, den Jungen zu kochen und zu essen, finden wir auch in dem Märchen Fundevogel. In beiden Märchen ist die Zuneigung der Schwester (in Fundevogel: Lenchen, Machandelboom: Marlenchen) trotz der nicht oder nur halb vorhandenen Blustverwandtschaft so stark, dass sie durch ihre Treue den Jungen rettet.

Motivverwandtschaft gibt es außerdem mit dem Märchen Der singende Knochen, in dem ein Bruder den anderen ermordet und verscharrt. Jahre später findet ein Hirte einen Knochen, aus dem er sich eine Flöte baut. Ähnlich wie der aus dem Wacholder aufsteigende Vogel, kündet diese von der Freveltat.

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