Bertha mit den großen Füßen
Bertha mit den großen Füßen ist ein französisches Märchen, dessen Quellen sich bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen lassen (Berthe aus grans piés, von dem französischen Spielmann Adenes Le Roi [*um 1240, † um 1300]). Es basiert auf der Berthasage, die in mehreren weiteren Überlieferungen erhalten ist. Bertha (oder Bertrada, *um 725, †783) war die Frau von Pippin dem Jüngeren und Mutter von Karl dem Großen und hatte der Sage nach einen großen oder missgestalteten Fuß. Auf diesen Umstand bezieht sich auch Titel Contes de ma Mère l’Oye (dt. Märchen meiner Mutter Gans) von Charles Perraults Märchensammlung, die Ende des 17. Jahrhunderts erschienen ist und das Märchen als Genre in Frankreich popularisierte.
Die folgende Inhaltsangabe bezieht sich auf die Fassung von Adenes Le Roi, die in deutscher Übersetzung in dem 1923 erschienenen Band »Französische Volksmärchen« unter dem Titel Bertha mit den großen Füßen enthalten ist (übersetzt und herausgegeben von Ernst Tegethoff, aus der Reihe Märchen der Weltliteratur, erschienen bei Diederichs).
Inhalt
Die ungarische Königstochter Bertha wird in Begleitung ihrer Amme Margiste und deren leiblicher Tochter von ihren Eltern an den Hof von König Pippin geschickt, den sie heiraten soll. Es findet eine prunkvolle Hochzeitsfeier statt, doch noch in der Hochzeitsnacht setzt die verräterische Amme einen teuflischen Plan um. Sie redet Bertha, die ihr vertraut, ein, dass Pippin ein schrecklicher Unhold sei und sie in der Hochzeitsnacht ermorden würde. Aber sie hätte schon einen Plan, wie sie Bertha retten könne: schweren Herzens würde sie ihre eigene Tochter opfern, die sich an Berthas Stelle ins Brautbett legen würde. Bei Tagesanbruch solle sich Bertha dann wieder ins Brautzimmer schleichen.
Gesagt getan. Pippin zeugt mit Aliste, der Tochter der Amme, in der Hochzeitsnacht einen Erben, „der voller Falschheit und Tücke war“. Aliste muss für den Plan ihrer Mutter, der sie zur Königin macht, immerhin auch ein Opfer bringen. Als Bertha in der Früh ins Zimmer schleicht, stößt sie sich ein Messer ins Bein und beginnt laut zu schreien. Die Magd wollte sie im Bett des Königs erdolchen! Bertha erkennt nun, dass sie die Amme und deren Tochter sie hereingelegt haben, doch es ist zu spät.
Pippin pflichtet seiner Gemahlin bei, dass Bertha, die vermeintliche Magd, hingerichtet werden soll. Die Amme und ihre Tochter, die nun Königin ist, überzeugen Pippin, dass es besser ist, die Sache zu vertuschen. Anstatt Bertha öffentlich hinzurichten, sollte man sie heimlich an einem weit entfernten Ort verschwinden lassen. Bertha wird geknebelt, sodass sie sich nicht mehr mit Worten verteidigen kann, und von Tybert, dem Hofmeister, der ebenfalls in den Plan eingeweiht ist, sowie drei weiteren Rittern in den Wald gebracht. Als Bertha schließlich nach mehreren Tagen vom Pferd geholt wird, um das Urteil zu vollstrecken, bemerkt einer der drei Ritter ihre Schönheit. Aus Mitleid verhilft er ihr zur Flucht. Tybert wird darüber wütend, lässt sich aber notgedrungen darauf ein, der Alten das Herz eines getöteten Ebers anstelle von Berthas Herz als Beweis zu bringen.
Bertha gelangt indes zur Hütte eines einfachen Mannes namens Simon, bei dem sie neun Jahre lang lebt. Ihre Mutter Blancheflur, die Königin von Ungarn, macht sich eines Tages auf die Reise, um ihre Tochter in Paris zu besuchen. Unterwegs erfährt sie von Bauern, dass Pippins Gemahlin bei ihren Untertanen einen sehr schlechten Ruf hat.
Aliste und ihre boshafte Mutter geraten angesichts des bevorstehenden Besuchs in leichte Panik. Die Alte rät ihrer Tochter, sich krank zu stellen. Doch es gelingt ihnen nicht lange, Blancheflur hin zu halten. Diese ergreift schließlich eine Kerze und erkennt trotz der schummerigen Beleuchtung im Krankenzimmer, dass es sich bei der im Bett liegenden Kranken nicht um ihre Tochter handeln kann — ihre Tochter hätte sie, egal wie krank, nach Jahren der Trennung umarmt und geküsst. Sie reißt die Decken von der Kranken und sieht, dass diese nicht die unverkennbaren großen Füße ihrer Bertha hat! Verrat!!! Pippin verurteilt die Alte zum Feuertod. Tybert wird von Pferden zu Tode geschleift und Aliste wird ihrer Kinder wegen am Leben gelassen, aber des Landes verwiesen.
Eines Tages verirrt sich Pippin bei der Jagd in der Nähe von Simons Hütte. Die schöne Frau, die bei ihm lebt und seinen Haushalt führt, gefällt ihm so gut, dass er sie heiraten will. Bertha, die den König nicht erkennt, weist ihn mit der Begründung ab, dass sie schon eines anderen Mannes Frau sei, nämlich die von König Pippin. Daraufhin erkennt Pippin, dass es sich um Bertha handelt. Er gibt sich als König zu erkennen, lädt auch die Eltern aus Ungarn an den Hof ein und alle feiern ein glückliches Ende. Simon wird zum Ritter geschlagen.
Motive
Wegen des Auftretens historisch belegter Personen (mindestens Pippin und Bertha) ließe sich einwenden, dass es sich hier eher um eine Sage als um ein Märchen handelt. Die Geschichte von Bertha mit den großen Füßen kann somit als Beispiel dafür gelten, dass die Abgrenzung zwischen beiden Gattungen nicht trennscharf ist und dass es Mischformen aus beiden gibt. Betrachten wir die Geschichte als Märchen, fällt v.a. die enge Verwandtschaft mit der Gänsemagd auf. Dort begibt sich ebenfalls eine Königstochter an einen fernen königlichen Hof um zu heiraten. Noch auf der Reise wird sie von einer rangniederen Frau (der Zofe) durch Hinterlist von ihrem königlichen Platz vertrieben. Parallelen gibt es nicht nur im Handlungsverlauf, sondern auch im Symbol der Gans, welches für weibliche Fruchtbarkeit steht und das bei Bertha in Gestalt ihrer „Gänsefüße“ auftritt.
Im zweiten Teil des Märchens, also nach Berthas Verurteilung, erinnert die Geschichte zunächst an Schneewittchen. Bertha wird in den Wald gebracht, wo sie ermordet werden soll. Doch ein mitleidiger Ritter/Jäger lässt sie frei und tötet stattdessen ein Tier. Das Leben in der Waldeinsamkeit erinnert wiederum an die Sage von Genoveva. Den Schluss bildet das in vielen Märchen variierte Motiv, des im Wald herumirrenden Königs, der in einer einfachen Hütte ein schönes Mädchen vorfindet, das er unbedingt heiraten will.
Volltext (externer Link)
Französische Volksmärchen, Bd. 1, Hg. Ernst Tegethoff, Eugen Diederichs, 1923 (Volltext auf Zeno.org)