Fundevogel

Fundevogel ist ein Märchen der Brüder Grimm (Kinder- und Hausmärchen, KHM 51). Es ist unter anderem verwandt mit Hänsel und Gretel (kinderfressende Hexe), Brüderchen und Schwesterchen (unzertrennliche Geschwister) sowie Der Liebste Roland (Märchentyp ATU 313: „magische Flucht“, also die Verwandlung als letzte Chance, den bösen Verfolgern zu entkommen).

Illustration von Albert Weisgerber zu dem Märchen Fundevogel von den Brüdern Grimm
Fundevogel. Illustration Albert Weisgerber (Grimms Märchen, Gerlachs Jugendbücherei, Wien und Leipzig, 1901)

Inhalt

Ein Förster findet auf einem Baum ein weinendes kleines Kind. Ein Raubvogel hatte es seiner Mutter, die im Wald eingeschlafen war, geraubt und auf dem Baum abgelegt. Der Förster nimmt es mit nach Haus und zieht es zusammen mit seiner Tochter Lenchen auf. Weil das Kind ein Findelkind ist und von einem Vogel geraubt wurde, nennen sie es Fundevogel. Die beiden Kinder sind unzertrennlich. Eines abends holt die Köchin des Försters, die in Wirklichkeit eine Hexe ist, viel Wasser und verrät Lenchen, das sie am nächsten Tag, wenn der Förster fort ist, den Fundevogel darin kochen will. Lenchen, die Fundevogel sehr lieb hat, verrät den grausamen Plan, und gemeinsam reißen die Kinder aus.

Als die Köchin ihr Verschwinden bemerkt, hetzt sie ihnen die Knechte hinterher. Dreimal entziehen sich die Kinder ihren Verfolgern durch Verwandlung: beim ersten Mal wird Fundevogel ein Rosenstock und Lenchen ein an diesem blühendes Röschen, dann werden sie eine Kirche und eine darin aufbewahrte Krone, und schließlich ein Teich und eine darauf schwimmende Ente. Beim dritten Mal schickt die Hexe nicht die Knechte, sondern kommt selbst. Sie will den See aussaufen (also Fundevogel fressen), doch sie wird von der Ente (Lenchen) in den See gezogen und muss ertrinken.

Motive und Interpretation

Auffällig an dem Märchen ist der mehrfach wiederholte, formelfhafte Treueschwur zwischen den Kindern:

Lenchen: „Verläßt du mich nicht, so verlaß ich dich auch nicht;”

Fundevogel: „nun und nimmermehr.”

Äußerlich besteht zwischen den beiden Kindern eine große Asymmetrie. Fundevogel ist ein Findelkind, das nur durch Zufall und dank der Barmherzigkeit des Försters überlebt hat. Seine Herkunft liegt im Dunkeln, wofür symbolisch der Wald steht. Lenchen dagegen ist als Tochter des Försters nicht nur behütet, sondern auch von äußerst respektabler Herkunft. Trotzdem gibt es zwischen beiden tief im Inneren eine starke Verbindung, nämlich die fehlende Mutter. Bei Fundevogel ist der Verlust durch Nachlässigkeit entstanden: die Mutter war mit dem Kind in den Armen eingeschlafen, was den Raub durch den Vogel ermöglicht hat. Von Lenchen ist anzunehmen, dass sie eine Halbwaise ist. Für ihr leibliches Wohl sorgt die Köchin, doch ihr fehlt es offenbar an Nahrung für die Seele. Die Verlusterfahrung, die zwar jedes der Kinder für sich allein gemacht hat, ist, zumindest unbewusst, eine Gemeinsamkeit, die alle anderen ausschließt. Deshalb verrät Lenchen auch nicht (was doch scheinbar so nahe liegt) dem Vater, dass die Köchin vorhat, Fundevogel zu töten. In ihren Verwandlungen nehmen die Kinder jeweils eine zusammengehörige Form an, wobei die Asymmetrie der ursprünglichen Beziehung erhalten bleibt: die Rose kann nur existieren, weil es den Rosenstock gibt, doch zeigt sich »die Schönheit« oder »die Bestimmung« des Rosenstocks erst durch die Rose. Besiegen (anstatt nur wegzulaufen) können sie die Hexe erst, als Lenchen Fundevogel nicht mehr nur beschützt, sondern sich (als Ente) aktiv gegen die Hexe wendet.

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