Die Bärin
Die Bärin (L’orza) ist ein Märchen aus dem Pentameron von Giambattista Basile (sechste Erzählung des zweiten Tages). Das Eingangsmotiv ist das vom Vater zur Frau begehrte Mädchen (vgl. Allerleirauh und die dort erwähnten Varianten), doch wird dieses später nicht wieder aufgenommen, d.h., es gibt keine irgendwie geartete Rückkehr der Tochter an den väterlichen Hof. Auffällig ist im Vergleich mit anderen Märchen vom Allerleirauh-Typ außerdem, wie Basile die Schuld für die unmoralischen Nachstellungen des Vaters der Mutter anlastet: in seiner Fassung belässt die im Sterben liegende Köngin es nicht dabei, ihrem Ehemann das Versprechen abzuringen, dass der keine Frau heiraten wird, die nicht ebenso schön ist wie sie; vielmehr droht sie ihm für den Fall der Zuwiderhandlung mit böser Hexerei. Verstärkt wird diese Verlagerung noch dadurch, dass das Märchen im Zuge der Rahmenhandlung mit allgemeinen Betrachtungen über die Niederträchtigkeit des Weibes eingeleitet wird.
Während die Verwandlung eines jungen Mannes (meist ein Prinz) in einen Bär im Märchen recht häufig vorkommt, ist die Verwandlung einer jungen Frau in eine Bärin sehr ungewöhnlich, werden doch dem Tier »typisch männliche« Eigenschaften zugesprochen (siehe auch Tiere im Märchen).
Inhalt
Ein König hat eine wunderschöne Frau. Doch obwohl noch jung an Jahren, wird sie aus heiterem Himmel von einer schweren Krankheit dahingerafft. Auf dem Sterbebett lässt sie ihren Gatten schwören, dass er keine Frau heiraten wird, die nicht ebenso schön ist wie sie:
… sonst lasse ich eine grauenvolle Verwünschung zurück und trage dir sogar bis in die andere Welt den furchtbarsten Haß nach.
Der König gibt sein Wort. Doch nachdem die Königin gestorben ist und seine zunächst tiefe Trauer verflogen ist, reut ihn seine Versprechen. Er lässt sämtliche heiratsfähige Frauen des Landes vorsprechen – irgendeine Schönheit muss sich doch finden lassen. Doch der König hat an jeder etwas auszusetzen. Schließlich fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. Wozu im ganzen Land nach dem Schatz suchen, wo er doch in seinem eigenen Haus ein wahres Schätzchen hat?
Als er sein Ansinnen der Tochter anträgt, ist diese entsetzt und verzweifelt. Während sie bitterlich weint, kommt eine alte Frau vorbei, der sie schon öfter Almosen gegeben hat. In ihrem Kummer vertraut sie sich der Alten an, und wie sich herausstellt, weiß diese Rat. Sie gibt ihr einen Holzspan, den sie in den Mund stecken soll, sobald der Vater mit ihr das Hochzeitsbett teilen will. Daraufhin würde sie sich in eine Bärin verwandeln, und in dieser Gestalt würde sie, den Schreck ausnutzend, in den Wald fliehen können. Mit dem Holzspan würde sie sich, so oft sie will, wieder zurück bzw. wieder in die Bärin verwandeln können.
So geschieht es. Eine Zeit lang lebt sie in angenehmer Gesellschaft der anderen Tiere im Wald. Eines Tages jedoch taucht ein Prinz dort auf, der vor ihr zunächst ganz fürchterlich erschrickt. Doch die Bärin gibt sich zutraulich und lieb wie ein Hündchen, bis der Prinz seinerseits Zutrauen zu ihr fasst. Schließlich nimmt er sie mit nach Hause und lässt sie in einem Garten unterhalb des Schlosses leben. Dort kann er sie, wann immer er möchte, von seinem Fenster aus beobachten.
Es dauert nicht lange, bis er beobachtet, wie die Bärin ihr Fell abstreift. Sie wird zu einer wunderschönen Jungfrau, die im Garten ihre langen, goldenen Haare kämmt. Er eilt in den Garten, doch als er sie in die Arme nehmen will, verwandelt sie sich wieder in die Bärin. Schwer enttäuscht fällt der Prinz zuerst in Schwermut und schließlich in einen Fieberwahn, in dem er immerzu von »der lieben Bärin« faselt. Dies deutet die Mutter des Prinzen so, dass die Bärin ihm etwas angetan hat. Deshalb will sie die Bärin von den Dienern töten lassen. Die Diener jedoch haben das zahme Tier ebenfalls liebgewonnen. Also führen sie es zurück in den Wald, anstatt es zu töten.
Der kranke Prinz sucht so lange nach seiner Bärin, bis er sie gefunden hat, und bringt sie zurück an den Hof. Er besteht darauf, von niemand anderem gepflegt zu werden als von der Bärin. Die Mutter, die sich ernsthaft um ihn Sorgen macht, ist schließlich einverstanden. Nach und nach ändert sie auch ihre Meinung über die Bärin, als sie sieht, wie liebevoll diese ihren Sohn pflegt. Als der Sohn darum bittet, die Bärin küssen zu dürfen (sonst würde er nie mehr gesund), erlaubt sie den Kuss. Und während der Prinz und die Bärin sich küssen, fällt jener der Holzspan aus dem Mund, sodass er auf einmal das schönste Geschöpf auf Erden in den Armen hält. Die schöne Jungfrau erzählt dem Prinzen und seiner Mutter ihre Leidensgeschichte, woraufhin der Hochzeit nichts mehr im Wege steht.