Das Mädchen ohne Hände

Das Mädchen ohne Hände ist ein Märchen der Brüder Grimm (Kinder- und Hausmärchen, KHM 31). Die ungewöhnliche Grausamkeit des Märchens zeigt sich nicht allein in der Verstümmelung des Mädchens durch den Vater, sondern vor allem auch darin, dass sie gleich zweimal schuld- und wehrlos ihr Zuhause verliert, ja, regelrecht vertrieben wird. Für die irritierende Handlung existieren sehr widersprüchliche Interpretationen (angerissen am Ende des Artikels), die die unterschiedlichen Sichtweisen auf das Problem der Gewalt gegen Frauen widerspiegeln.

AT 706

Illustration von Gordon Browne zu dem Märchen Das Mädchen ohne Hände
Das Mädchen ohne Hände. Illustration Gordon Browne (Fairy Tales from Grimm, Wells Gardner, Darton & Co., London 1894)

Inhalt

Ein verarmter Müller begegnet im Wald beim Holzhacken einem alten Mann. Der verspricht, ihn reich zu machen, wenn er dafür bekommt, was hinter seiner Mühle steht. In der Annahme, der Mann könne nur den Apfelbaum hinter der Mühle meinen, geht der Müller auf den Handel ein. Doch als er daheim seiner Frau den Preis für den plötzlichen Reichtum nennt, ist diese entsetzt:

„Ach, Mann,“ sagte die Frau erschrocken, „das ist der Teufel gewesen: den Apfelbaum hat er nicht gemeint, sondern unsere Tochter, die stand hinter der Mühle und kehrte den Hof.“

Der Teufel hatte angekündigt, dass er sich sein Eigentum erst in drei Jahren holen würde. Die Tochter war ein frommes Mädchen und »lebte in Gottesfurcht und ohne Sünde«. Als die Zeit gekommen war, »wusch sie sich rein und machte mit Kreide einen Kreis um sich«. So kann ihr der Teufel nichts anhaben. Doch der gibt nicht auf und befiehlt dem Müller, seiner Tochter alles Wasser wegzunehmen, auf dass sie unrein würde. Doch das Mädchen weint auf ihre Hände, sodass sie rein werden und ihr der Teufel weiterhin nichts anhaben kann. Da wird der Teufel wütend und befiehlt dem Müller, der Tochter die Hände abzuschlagen, damit sie unrein wird. Wenn er es nicht täte, würde er ihn selber holen. Der Müller tut lieber seiner Tochter Gewalt an, als selbst dem Teufe anheim zu fallen:

„Hilf mir doch in meiner Noth, und verzeihe mir was ich böses an dir thue.“

So wird das Mädchen also durch den eigenen Vater zum Krüppel, doch der Teufel bekommt sie trotzdem nicht. Sie weint auf ihre blutenden Armstümpfe und bleibt dadurch auch in ihrer Verletztheit rein. Nun packt den Vater schlechtes Gewissen; er verspricht ihr, der er seinen Reichtum verdankt, sie »zeitlebens aufs köstlichste zu halten«. Doch das Mädchen geht fort:

… hier kann ich nicht bleiben; ich will fortgehn; mitleidige Menschen werden mir schon so viel geben als ich brauche.“

Damit beginnt der zweite Teil der Geschichte, eine lange Odyssee des Mädchens.

Das Mädchen ernährt sich von Früchten im Garten eines Königs (Königssohns), der sie liebgewinnt und heiratet. Für ihre abgehackten Hände lässt er silberne Prothesen machen. Vor der Geburt ihres Kindes zieht der König in den Krieg. Diese Situation nutzt der Teufel, der sie immer noch haben will, sofort aus. Als die Schwiegermutter, eine liebevolle und der jungen Königin wohlgesonnene Frau, ihrem Sohn die Geburt des Sohnes brieflich mitteilt, fängt er den Brief ab und vertauscht ihn mit einer Fälschung.

In dem gefälschten Brief muss der junge König lesen, seine Frau habe einen Wechselbalg geboren. Doch diese Lüge genügt nicht. Der König antwortet trotz der schlechten Nachricht, man möge seine Frau bis zu seiner Rückkehr gut pflegen. Auch diesen Brief fängt der Teufel ab und fälscht ihn. Die Mutter des Königs enthält nun die Weisung, ihre Schwiegertochter und das Kind töten zu lassen. Zum Beweis solle sie Augen und Zunge aufheben. Doch sie bringt es nicht übers Herz und tötet stattdessen eine Hirschkuh. Die Brutalität ihres Sohnes erklärt sie sich durch das Erlebnis des Krieges. Als er schließlich heimkehrt, klärt sich die Situation nach einer kurzen Phase der gegenseitigen Beschuldigungen auf. Aber wo ist die junge Königin mit ihrem Kind? Der König macht sich auf die Suche.

„ich will gehen so weit der Himmel blau ist, und nicht essen und nicht trinken bis ich meine liebe Frau und mein Kind wieder gefunden habe,

Die junge Königin war bei ihrer Flucht von ihrem zweiten zu Hause in einen »wilden Wald« geraten und hatte ein kleines Haus gefunden, auf dessen Tür stand

Hier lebt jeder frei.

Und tatsächlich lebt die Königin hier sieben Jahre nicht nur frei mit ihrem Jungen, den sie Schmerzensreich nennt, sondern sie wird auch von einem Engel umsorgt. Mit der Zeit wachsen ihr die natürlichen Hände nach. Als schließlich der nach ihr suchende König in der Hütte eintrifft, in der jeder frei lebt, muss ihn zuerst sein Sohn erkennen, der von seiner Mutter gelernt hat zu beten »Vater, der du bist im Himmel«, und der König, der wegen der lebendigen Hände der Frau zunächst zweifelt, erkennt sie, als sie die silbernen Prothesen hervor holt, die sie nicht mehr braucht, aber aufbewahrt hat.

Da war große Freude überall, und der König und die Königin hielten noch einmal Hochzeit, und sie lebten vergnügt bis an ihr seliges Ende.

Interpretation

Das Märchen vom Mädchen ohne Hände wird sehr unterschiedlich interpretiert. Zum einen gibt es die Interpretation von Eugen Drewermann (die deutsche Wikipedia erwähnt nur diese), die sich auf das Symbol der abgeschlagenen Hände im Sinne von Handlungsunfähigkeit konzentriert, und daraus Passivität und Neigung zur Depressivität ableitet. So wird das malträtierte Mädchen, das sich aus Schuldgefühlen gegenüber dem Vater geopfert hat, nachträglich ein zweites Mal zur Schuldigen erklärt: sie ist schuldig, weil sie das Spiel mit dem Bösen mitgemacht, sich nicht (rechtzeitig) gewehrt und dem Teufel durch ihr duldsames Verhalten eine Chance gegeben hat. Die im letzten Teil überwiegende Betonung christlicher Motive (der Engel und die Erlösung durch Gottes Gnade), rundet diese Interpretation ab.

Es erstaunt wohl nicht, dass diese Interpretation auf einige Empörung bei Frauen gestoßen ist, erscheint sie doch sehr abstrakt und auf (mehrdeutige) Symbole gestützt, obwohl sich eine vom Sinn her völlig andere Interpretation entlang der direkten Erzählung geradezu aufdrängt. Was dieses Märchen direkt erzählt, ist die Geschichte eines Mannes, der sich skrupellos nimmt, was der Teufel ihm offeriert und was er gern haben möchte. Das Märchen nennt es »Reichtum«, was aber wie die Umschreibung für etwas anderes wirkt, da doch die Müller normalerweise eher zu den Reicheren gehörten.

Nachdem er sich einmal mit dem Teufel eingelassenen hat, schreckt der Mann nicht davor zurück, seiner eigenen Tochter Gewalt anzutun, um sich selbst zu schonen. Die Annahme, dass dieses Verhalten nicht pathologisch, sondern für Männer normal ist, wäre wohl männerfeindlich. Mir scheint es logischer anzunehmen, dass der Teufel in diesem Märchen eine formal von dem Mann (Vater) abgespaltener Teil seiner selbst ist und das brutale Abschlagen der Hände (um die schützende Reinheit zu zerstören) sexueller Missbrauch bzw. Vergewaltigung symbolisiert. Wiederum muss diese Interpretation nicht auf Abstraktes zugreifen, wir erfahren es ganz direkt. Der Mann will das von ihm selbst verletzte Mädchen »zeitlebens aufs köstlichste halten«. Eindeutig ist der Inzestversuch in dem französischen Märchen La Mankine, wo der Vater ein König ist und seine Tochter wie im Allerleirauh-Märchen nach dem Tod seiner Frau ehelichen will.

Während Drewermanns Interpretation aus den abgeschlagenen Händen Handlungsunfähigkeit (=Passivität) ableitet, erzählt der zweite Teil der Geschichte von etwas anderem. Das Mädchen geht weg, weg von dem Mann, der ihr Gewalt angetan hat. Aber auch weg von ihrem Elternhaus — der entscheidende, schwerste und tapferste Schritt für ein missbrauchtes Mädchen. Selbst für ein Mädchen mit Händen wäre ein solcher Schritt der Abnabelung eine große Leistung, aber das Mädchen ohne Hände ist doppelt geschlagen: allein und stigmatisiert. In diesem Punkt ist der Unterschied zwischen den beiden Interpretationen am gravierendsten. In dem einen Fall ist das Mädchen passive Erdulderin, in dem anderen mutig Handelnde.

Doch ein Happy End gibt es (wie bei realen Missbrauchsfällen) auch im Märchen so schnell nicht, obwohl es zunächst danach aussieht. Sie findet einen Mann, der sie liebt und der ihr für ihre abgeschlagenen Hände Prothesen machen lässt. Aber er kann ihr auf Dauer nicht nah sein, weil er in den Krieg ziehen muss. So drängt sich der Teufel (das Böse aus der Vergangenheit) zwischen sie. Erst nachdem sie in Abgeschiedenheit mithilfe des Engels das Leben in Freiheit gelernt hat, kann das Paar ein zweites Mal, und dieses Mal wirklich, Hochzeit feiern.

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