Der Geist im Glas

Der Geist im Glas ist ein Märchen der Brüder Grimm (KHM 99). Es hat einige Ähnlichkeit mit der Geschichte vom Fischer und dem Dschinni aus Tausendundeine Nacht, doch zusätzlich zur Auseinandersetzung des Helden mit dem Dämon gibt es hier eine zweite Geschichte, in der es um die Beziehung des jungen Helden zu seinem Vater geht. Der Vater ist ein armer Holzhacker, der seinem Sohn den Besuch einer höheren Schule ermöglicht. Die geringen Ersparnisse sind aufgebraucht, bevor der Sohn die Schule abschließen kann, doch »der Geist ist aus der Flasche«: neugierig und selbstbewusst wagt sich der Sohn, Neuland zu betreten, was ihn zunächst von seinem Vater entfernt. Doch sein Mut wird belohnt: der Vater muss keine materielle Not mehr leiden, und der Sohn wird ein angesehener Arzt.

Illustration von Otto Ubbelohde zu dem Märchen Der Geist im Glas
Der Geist im Glas. Illustration Otto Ubbelohde (Kinder- und Hausmärchen, Turm-Verlag Leipzig, 1907-09)

Inhalt

Ein armer Holzacker möchte unbedingt, dass aus seinem Sohn, seinem einzigen Kind, etwas wird, und schickt ihn deshalb von seinem sauer verdienten Geld auf die Schule. Der Junge hat schon viel gelernt, als die Ersparnisse des Vaters zur Neige gehen und er die Schule vorzeitig verlassen muss. Unverzagt schlägt der Sohn dem Vater vor, mit ihm zum Holzhacken zu gehen, um etwas zum Lebensunterhalt beizutragen. Der Vater will zunächst nichts davon wissen, da zum einen der gebildete Sohn die harte Arbeit nicht gewohnt ist, und zum anderen das Geld fehlt, um eine zweite Axt zu kaufen. Doch der Sohn schlägt vor, eine Axt vom Nachbarn zu borgen, und so gehen sie gemeinsam zum Holzschlagen.

Der Sohn ist fleißig bei der Arbeit wie sein Vater. Als die Sonne hoch am Himmel steht, machen sie eine Pause, die der Vater dazu nutzt sich auszuruhen. Der Sohn dagegen will während der Arbeitspause lieber durch den Wald streifen und nach Vogelnestern Ausschau halten. Der Vater hält das für eine dumme Idee, auf nur einer kommen kann, der zu lange die Schulbank gedrückt hat; für pure Kraftverschwendung, die der Sohn am Nachmittag sicher bereuen wird. Unbeirrt und guter Dinge zieht der Junge los.

Bald kommt er zu einer alten, etwas unheimlichen Eiche, so dick, dass fünf Leute sie nicht umfassen können. Da müssen bestimmt Vogelnester drin versteckt sein, denkt sich der Junge, und tritt näher heran. Ihm ist, als hörte er eine Stimme, die ruft: »Lass mich heraus!« In einer Kuhle zwischen den Wurzeln entdeckt er ein Glas mit einem froschähnlichen Wesen darin. Nichts Böses ahnend zieht er den Pfropfen heraus, woraufhin das Wesen aus dem Glas steigt und immer größer und furchterregender wird, bis es schließlich halb so groß ist wie die Eiche. Der Geist verkündet seinem Retter, welcher Lohn ihn für die gute Tat erwartet: Er werde ihm den Hals brechen.

Der Jüngling behält die Nerven: Der Geist solle erst mal beweisen, dass er tatsächlich so mächtig ist, indem er ungeachtet seiner jetzigen Größe irgendwie wieder zurück in das Glas findet.1 Bei der Ehre gepackt lässt der Geist seinen Körper wieder schrumpfen und kriecht zurück in sein Glas. Und kaum ist der drin, drückt der Jüngling den Pfropfen wieder drauf.

Daraufhin beginnt der Geist zu jammern und zu betteln: der Jüngling solle ihn doch bitte wieder raus lassen, er würde dafür reich belohnt werden. Der Jüngling will zuerst nicht, doch dann siegt die Neugier und die Aussicht auf Belohnung. Er lässt den Geist wieder aus dem Glas. Der gibt ihm einen kleinen Lappen mit wunderbaren Eigenschaften: wenn man mit dem einen Ende eine Wunde bestreicht, wird sie wieder heil. Und wenn man mit dem anderen Ende einen Gegenstand aus Stahl oder Eisen bestreicht, verwandelt dieser sich in Silber.

Der Jüngling geht zurück zum Vater, der schon etwas verärgert ist, weil der Sohn so lange weggeblieben ist. Der Sohn will umso fleißiger arbeiten, um den Rückstand aufzuholen. Frohgemut haut er seine Axt – die er zuvor mit dem Wunderlappen in Silber verwandelt hat – gegen einen dicken Baum. Der rührt sich nicht, während die Axt sich verbiegt. Nun ist der Vater ernsthaft sauer, denn die Axt war vom Nachbarn geliehen und er wird sie ihm nun ersetzen müssen. Doch diese Art Schicksalsschläge ist der Vater gewöhnt; er wird eben in der nächsten Zeit noch härter arbeiten und den studierten Sohn besser daheim lassen. Der soll stattdessen versuchen, beim Trödler wenigstens noch etwas Kleingeld für die verbogene Axt zu bekommen.

Tatsächlich geht der Sohn mit der silbernen Axt zum Goldschmied, der ihm vierhundert Taler dafür gibt. Nun hat alle Not ein Ende. Der Nachbar bekommt Geld genug, um zwei neue Äxte zu kaufen, der Vater kann ohne Plackerei ein bequemes Leben führen, und der Sohn geht zurück auf die Schule, studiert und wird schließlich, auch dank seines heilkräftigen Lappens, ein angesehener Arzt.2

  1. Die List, dem Geist eine Probe seines Könnens abzuverlangen, findet sich in leicht abgewandelt Form in vielen Märchen, in denen sich ein armer, aber tatkräftiger Mann sich mit dem Teufel eingelassen hat (u.a. Der Schmied von Jüterbog). Der Teufel soll dann z.B. in einen kleinen Sack schlüpfen, den der Held dann schnell zuschnürt.
  2. Der Arztberuf wird nicht nur in diesem Märchen mit Magie und Alchemie (Verwandlung von Eisen in Silber) verbunden. Siehe z.B. das Märchen Gevatter Tod, wo ein aus ärmlichsten Verhältnissen stammender Junge ein berühmter Arzt wird.

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