Klein Zaches genannt Zinnober

Klein Zaches genannt Zinnober ist ein Kunstmärchen von E.T.A. Hoffmann, erschienen 1819. E.T.A. Hoffmann vermischt Motive französischer Feenmärchen mit dem Grundmotiv der deutschen Romantik — dem aufklärungsskeptischen, naturverbundenen Studenten — und seinen höchst eigenen skurrilen Einfällen. Der Autor merkte an, man solle die Geschichte bloß nicht zu ernst nehmen, sie einfach als leichte Humoreske lesen. Das war entweder Understatement oder eine Sicherheitsmaßnahme. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung hatte Hoffmann bereits eine Strafversetzung (von Posen noch weiter in den Osten) hinter sich, nachdem er Karikaturen von Offizieren und anderen hochrangigen Personen in Umlauf gebracht hatte. Wenige Jahre später brachte ihm das ebenfalls voller satirischer Anspielungen steckende Kunstmärchen Meister Floh ein Disziplinarverfahren ein. Dessen Ausgang erlebte er allerdings nicht mehr, da er wenige Monate nach Veröffentlichung starb. In Klein Zaches genannt Zinnober persifliert Hoffmann die in der Folge der Aufklärung um sich greifende Wissenschaftsgläubigkeit ebenso wie die Vorstellung von der Allmacht des absolutistischen Herrschaftsprinzips.

Klein Zaches, genannt Zinnober. Illustration Hans Stubenrauch

Inhalt

Die arme Bäuerin Liese ist vom Unglück verfolgt: Hagelschlag und Feuersbrunst treffen zielsicher sie und keinen anderen im Dorf. Selbst als ihr Mann beim Umgraben einiges Gold findet, bessert sich ihre Lage nicht — kaum in ihren Händen wird das Gold von Dieben gestohlen. Schlimmer als alles aber ist der Wechselbalg, den Liese, schon im fortgeschrittenen Alter, gebiert: Klein Zaches. Sieht aus wie ein gespaltener Rettich und wächst kaum. Isst aber für drei, will auf seinen dürren Beinchen nicht laufen lernen und spricht auch nicht. Der Junge ist eine einzige Plage, und nichts lässt hoffen, dass er den Eltern jemals eine Hilfe sein könnte.

Die Fee Rosabelverde greift ein

Als Liese einmal mit ihrem Holzkorb vor Hunger und Kummer im Wald zu Boden sinkt, kommt das Stiftsfräulein Rosenschön des Weges. Das Stiftsfräulein ist in Wirklichkeit die Fee Rosabelverde. Früher gab es im Lande viele Feen und andere Zauberwesen, doch die meisten wurden im Zuge der Aufklärung des Landes verwiesen. Einige wenige — und zu diesen gehört Rosabelverde — durften bleiben, denn die Aufklärer waren nicht dumm:

… die Leute werden sehr bald an die Feen, wenn sie unter ihnen wandeln, gar nicht mehr glauben, und das ist das beste.

Rosabelverde scheint den Aufklärern in einem Stift für adelige Fräulein gut aufgehoben. Sie helfen sogar, als es Probleme wegen ihres nicht ganz lupenreinen Stammbaumes gibt. Die Fee passt sich an so gut es geht, aber ganz kann sie das Zaubern nicht lassen. Als sie das bedauernswerte Geschöpf Klein Zaches findet, dem die Natur alle guten Gaben verweigert hat, schenkt sie ihm drei rote Haare. Dann streicht sie ihm so lange über den Kopf, bis sein struppiges, dünnes Haar zu weichen, dicken Locken geworden ist. Dank des Zaubers werden alle großartigen Leistungen, die jemand in Klein Zaches‘ Nähe verbringt, fortan ihm zugerechnet. All seine Missgeschicke und Garstigkeiten dagegen werden einem anderen zur Last gelegt.

Klein Zaches steigt auf

Der erste, der sich von Klein Zaches blenden lässt, ist der Pfarrer. Der nimmt ihn bei sich auf und erzieht ihn wie seinen eigenen Sohn. Später zieht es Klein Zaches in die Universitätsstadt Kerepes, wo er sich Herr Zinnober nennt und ganz groß Karriere macht. Eine so unerhörte Karriere wie die seine erfordert natürlich auch Opfer. Und das erste Opfer ist der romantisch veranlagte Student Balthasar. Der ist verliebt in Candida, die Tochter seines Professors Mosch Terpin, der ein großartiger Naturforscher ist und die beliebtesten Vorlesungen der ganzen Univerität hält. Als Balthasar beim Professor zum literarischen Tee eingeladen ist, fasst er Mut und trägt eines seiner gefühlvollen Gedichte vor. Die lauschende Menge ist begeistert und Candida schmilzt dahin — doch alle Bewunderung gilt dem hässlichen, mickrigen Zinnober. Balthasar ist verzweifelt und sucht Trost auf ausgedehnten Waldspaziergängen.

Zinnober vermag auf geheimnisvolle die Weise die Massen zu blenden. Scheinbar können nur diejenigen die Wahrheit sehen, die Opfer seines unaufhaltsamen Aufstiegs werden. Zum Beispiel der berühmte Geiger Sbiocca, der ein grandioses Konzert gibt, um dann mit anzusehen, wie sich Zinnober im Applaus sonnt. Absurderweise wird sogar der Gesang von Signora Bragazzi Zinnober zugerechnet, woraufhin die Signora vor Kummer stirbt.

Der Aufstieg läuft aus dem Ruder

Mit Selbstmordgedanken trägt sich der Referendarius Pulcher, dessen ganzes Streben einer Stelle im diplomatischen Dienst galt. Er hatte sie schon so gut wie sicher — bis zu jener fatalen mündlichen Prüfung, in der er gemeinsam mit Klein Zaches saß. Der wusste keinen einzigen vernünftigen Satz zu sagen, während er, Pulcher … Ach ja, nun ist Klein Zaches, genannt Zinnober, geheimer Expedient im Außenministerium, und das ist erst der Anfang. Bald macht Adrian, ein junger Angestellter im Ministerium, ähnliche Erfahrungen. Die Lorbeeren für einen von ihm verfassten und vom Fürsten persönlich gelobten Bericht gehen an Zinnober, der flugs befördert wird.

Balthasar hat seine Hoffnungen bezüglich Candida schon aufgegeben, die Zinnober regelrecht verfallen ist. Ihre Verlobung mit ihm beflügelt wiederum die Karriere ihres Vaters. Doch Hilfe naht. In einer von Einhörnern gezogenen Kutsche mit einem Silberfasan als Kutscher fährt der Magier Prosper Alpanus freundlich lächelnd an Balthasar vorbei. Der weiß zwar nicht, wen er vor sich hat, doch er ist sich sicher:

— jener ist’s, der Zinnobers verruchten Zauber bricht!

Und so ist es, wenn es auch noch dauert und Balthasar selbst einiges dafür tun muss. Zinnober steigt derweil immer weiter auf, bringt es schließlich gar zum Außenminister. (Ein Amt, das er ausfüllt, indem er sich vor allem um sich selbst kümmert.) Doch nachdem Alpanus herausgefunden hat, dass die Fee Rosabelverde hinter dem faulen Zauber steckt, ist Zinnobers Schicksal besiegelt. Während eines bemerkenswerten Treffens in Alpanus‘ Landhaus sieht Rosabelverde ein, dass sie mit ihrer aus Mitleid geborenen Zauberei großes Unheil angerichtet hat. Und Alpanus äußert Verständnis für ihre Situation. Es ist eben nicht einfach für Zauberer in einem Land, in dem von Gesetz wegen Aufklärung herrscht.

Rosabelverde korrigiert ihren Fehler

Die Seelenverwandten schließen Freundschaft und schaffen die leidige Sache mit dem garstigen Zwerg aus der Welt. Dazu muss Balthasar dem Zinnober seine drei roten Haare ausreißen. Danach sieht das Volk seinen Außenminister als das, was er ist: ein hässlicher, garstiger Zwerg, der nur unverständliches Zeug brabbelt. Zinnober, der inzwischen von seiner alten Mutter Liese als ihr Sohn Klein Zaches identifiziert wurde, rutscht auf der Flucht vor dem rebellierenden Volk aus, stürzt kopfüber in einen silbernen Nachttopf und verstirbt. Im Tod aber sieht er hübscher aus als im Leben (meinen zumindest Fee Rosabelverde und Mutter Liese). Schnell verblasst die Erinnerung an Zinnobers unrühmliches Ende. Das Volk behält ihn so in Erinnerung, wie es ihn die längste Zeit über sah: als den genialsten Außenminister, den es je hatte.

Balthasar heiratet Candida und lebt mir ihr glücklich und zufrieden im Landhaus, das ihm Prosper Alpanus vermacht hat. Rosabelverde hat mit ihrer Zauberei diesmal ein glücklicheres Händchen. Denn sie schenkt Candida einen Halsschmuck, der bewirkt, dass sie niemals wegen Kleinigkeiten (wie Flecken in der Wäsche) verdrießlich wird. Und die alte Liese wird Hoflieferantin für Zwiebeln.

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