Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein
Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein ist ein Märchen der Brüder Grimm (Kinder- und Hausmärchen, ab 2. Auflage, KHM 130), verwandt mit Aschenputtel
Inhalt
Eine Frau hat drei Töchter, von denen eine nur ein Auge hat (Einäuglein), eine andere dafür drei (Dreiäuglein). Die dritte Tochter, die wie alle andere Menschen auch zwei Augen hat (Zweiäuglein), wird wegen ihrer Gewöhnlichkeit von der Mutter und den Schwestern abgelehnt und übel behandelt; sie bekommt ärmliche Kleider und muss oft hungern. Eines Tages muss sie auf dem Feld die Ziege zu hüten. Sie ist sehr hungrig und beginnt zu weinen. Aus ihren Augen rinnen zwei Bächlein, als eine weise Frau zu ihr tritt. Nach dem Grund für ihren Kummer befragt, erzählt Zweiäuglein der Frau von zu Hause und dass sie oft Hunger hat. Die Frau verrät ihr, dass sie nur zu ihrer Ziege sagen muss
„Zicklein, meck!
Tischlein deck!“
dann müsse sie nie mehr Hunger leiden. Zweiäuglein probiert es gleich aus, und tatsächlich erscheint vor ihr ein reich gedeckter Tisch mit den schönsten Speisen. Guter Dinge geht sie an diesem Abend nach Hause und rührt die Schüssel mit der kargen Mahlzeit nicht einmal an. Mutter und Schwestern schöpfen Verdacht. Deshalb muss Einäuglein am nächsten Tag mit ihr gemeinsam die Ziege hüten, um der Sache auf den Grund zu gehen. Doch Zweiäuglein weiß sich zu helfen, sie singt der Schwester solange vor, bis diese einschläft:
„Einäuglein, wachst du?
Einäuglein, schläfst du?“
Dann spricht sie wieder den Zauberspruch und isst sich satt. Einäuglein muss daheim zugeben, dass sie eingeschlafen ist und deshalb nichts herausgefunden hat. Am nächsten Tag muss Dreiäuglein mit ihr die Ziege hüten. Diesmal passt Zweiäuglein nicht richtig auf, denn sie singt
„Dreiäuglein, wachst du?
Zweiäuglein, schläfst du?“
Deshalb fallen der Schwester nur zwei Augen zu, mit dem dritten spioniert sie Zweiäuglein aus. Ihr Fehler kommt Zweiäuglein teuer zu stehen, denn die neidischen Frauen töten ihre Ziege. Draußen am Feldrain weint sie wieder jämmerlich, weil sie nun wieder hungern muss. Wieder kommt die weise Frau zu ihr und rät ihr, dass sie sich von der Mutter die Eingeweide der toten Ziege erbitten und diese vorm Haus begraben soll. Da es sich um den minderwertigsten Teil des Tiers handelt, wird ihr der Wunsch erfüllt.
Am nächsten Morgen ist aus den Eingeweiden ein Baum mit silbernen Ästen und goldenen Früchten gewachsen. Das kostbare Gewächs weckt natürlich Begehrlichkeiten bei Mutter und Schwestern, doch so sehr sie sich auch bemühen, gelingt es ihnen nicht einen Zweig oder eine Frucht davon abzubrechen. Einzig Zweiäuglein kann ohne Mühe von dem Baum abbrechen, was immer sie will. Das stachelt den Neid nur noch weiter an, und sie behandeln sie danach noch schlechter.
Eines Tages erscheint ein junger Ritter vor dem Wunderbaum und ist sehr beeindruckt. Er fragt, wem der Baum gehöre, und verspricht derjenigen, die ihm ein Teil davon abbricht, ihr einen Wunsch zu erfüllen. Einäuglein und Dreiäuglein, die ihre Schwester schnell in einem Fass versteckt haben, geben sich als die Besitzerinnen aus, doch es gelingt ihnen nicht, dem Ritter einen Zweig oder eine Frucht abzubrechen. Der bezweifelt angesichts dieses Unvermögens, dass sie die rechtmäßigen Besitzerinnen sind. Da rollt Zweiäuglein aus ihrem Versteck dem Ritter zwei goldene Äpfel vor die Füße.
Die Schwestern behaupten, sie hätten sie versteckt, weil sie mit ihren gewöhnlichen Augen so unansehnlich ist, dass man sich für sie schämen muss. Doch der Ritter lässt sich nicht beirren. Entzückt von ihrer Schönheit bittet er sie, ihm einen Zweig mit silbernen Blättern und goldenen Früchten abzubrechen. Zweiäuglein erfüllt seinen Wunsch und wünscht sich ihrerseits von ihm, dass er sie mitnimmt und von Hunger und Not erlöst. So geschieht es. Mutter und Schwestern platzen fast vor Neid, trösten sich jedoch damit, dass ihnen immerhin der kostbare Baum geblieben ist. Doch am nächsten Morgen ist auch der verschwunden.
Der Ritter und Zweiäuglein heiraten. Und als Zweiäuglein nach der Hochzeit aus ihrem Zimmer schaut, sieht sie, dass der Baum ihr gefolgt ist und nun im Schlossgarten steht. Nach langer Zeit erscheinen am Hof zwei Frauen und bitten um Almosen. Zweiäuglein erkennt die Gesichter ihrer Schwestern und heißt sie willkommen, auf dass sie die an ihr verübten Boshaftigkeiten bereuen.
Interpretation
Offensichtlich gehört auch dieses Märchen zu der unüberschaubaren Zahl von »Aschenputtel-Märchen«. Zweiäuglein wird gegenüber ihren beiden Schwestern schwer benachteiligt und ist am Ende doch diejenige, die den Prinzen (Ritter) für sich gewinnt und von ihm erlöst wird. Es ist in diesem Fall die Mutter (nicht Stiefmutter), die sich »stiefmütterlich« gegenüber einer ihrer Töchter verhält. Dieser Unterschied ist aber unbedeutend, denn dem Geschehen nach ist sie nicht die „richtige Mutter“ von Zweiäuglein. Die richtige Mutter wird verkörpert von der weisen Frau, der Ziege und dem Wunderbaum, die drei magischen Helfer, die ihren Hunger stillen und sie schließen ihrem Erlöser zuführen. Ähnlich wie bei Aschenputtel muss das Mädchen vor dem Prinzen eine Prüfung bestehen, um sich als die rechte Braut zu erweisen.