Märchen in Bildern: Die Gänsemagd
Das Märchen von der Gänsemagd enthält viele lebhafte Szenen und Motive, die danach rufen, in Bilder umgesetzt zu werden. Dazu gehören der Abschied der Königstochter von der Mutter, ihre Reise mit der heimtückischen Magd, der Torbogen mit dem Pferdekopf und natürlich das Mädchen beim Gänsehüten. Vor allem das letzte Motiv hat offenbar viele Illustratoren gereizt. Manche Märchenillustrationen zur Gänsemagd erinnern an Gemälde ländlicher Idyllen, von denen sie möglicherweise inspiriert wurden. Doch die meisten unterscheiden sich hiervon in einem wichtigen Detail: Statt eine Haube zu tragen, kämmt die Gänsemagd ihr langes, blondes Haar, mit dem mehr oder weniger sanft der Wind spielt. Im Hintergrund sieht man meist den Hütejungen seinem Hut nachlaufen, den der Wind ihm vom Kopf gerissen hat.
Paul Meyerheim
Paul Meyerheim (*1842, †1915) illustrierte die 20. Auflage der Kleinen Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen, die 1874 erschien. Er hat sein Bild zur Gänsemagd so arrangiert, dass es die beiden wichtigsten Schlüsselmotive umfasst. Im Vordergrund kämmt die Gänsemagd ihr Haar, während hinter ihr der Junge seinem Hut nachläuft. Doch auch der im Torbogen hängende Kopf des Pferdes Falada ist deutlich zu sehen.
Hermann Vogel
Hermann Vogel (*1854, †1921) war ein Maler und Illustrator aus dem Vogtland (Sachsen). Er führte nach seiner Geburtsstadt Plauen auch den Künstlernamen Hermann Vogel-Plauen. Vogel illustrierte Abenteuerromane, Heldensagen, die Märchen und Sagen von Musäus sowie die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (Verlag Braun & Schneider, 1894).
Das folgende Bild zeigt die wichtige, aber nicht allzu oft illustrierte Szene, in der die Zofe die Königstochter zum Rollentausch zwingt. Während die Zofe höhnisch und siegessicher auf die Königstochter herabblickt, verweist die Körperhaltung der Königstochter auf ihre bevorstehende Erniedrigung. Auch die Pferde der beiden Frauen spiegeln deren Verhältnis wider. Der Braune der Zofe strotzt vor Energie und mag kaum stillstehen. Der königlich geschmückte Schimmel dagegen scheut und neigt seinen Kopf nach unten zur Königstochter, als ahnte er, was ihm und ihr bevorsteht.
Heinrich Lefler
Der österreichische Maler, Graphiker und Bühnenbildner Heinrich Lefler (*1863, †1919) war ein wichtiger Vertreter des Jugendstils. Zusammen mit Joseph Urban, mit dem er auch sonst oft zusammenarbeitete und der sein Schwager war, gestaltete er für das Jahr 1905 einen Kalender mit Motiven aus den Grimmschen Märchen. (Von Lefler stammen die Bildmotive, von Urban die Rahmen.) Das Bild zur Gänsemagd (hier Gänsemädchen genannt) zeigt die oben beschriebene, häufig illustrierte Szene, sticht aber stilistisch hervor.
Auch einige Details sind bemerkenswert. Abgesehen von der ungewöhnlichen Kleidung der Gänsemagd und des Jungen fällt auf, das beide annähernd gleichaltrig sind. Dagegen betonen die meisten anderen Illustrationen der Szene den Kontrast zwischen der Kindlichkeit des Hütejungen und der erotischen Ausstrahlung der Gänsemagd, die bereits eine junge Frau ist. Ein anderes Detail betrifft die Gänse, die sich hier recken und spreizen, als wollten sie Schwäne sein — ganz anders als oben bei Meyerheim und allen übrigen Darstellung in dieser Kollektion.
Otto Kubel
Die folgenden Bilder gehören zu einer sechsteiligen Postkartenserie (Uvachrom Serie 241, um 1920) von Otto Kubel, die das Märchen von der Gänsemagd erstaunlich detailgetreu wiedergibt. Auf den Rückseiten der Karten steht jeweils ein Stück Text, sodass Bilder und Texte der vollständigen Serie ein Nacherzählen leicht möglich machen.
Die erste Postkarte zeigt, wie die Königin ihrer Tochter zum Abschied das Tuch mit ihren Blutstropfen gibt. Während die Königin Haltung bewahrt, ist die Königstochter für den Abschied (und ihre bevorstehende Hochzeit) offensichtlich noch nicht bereit. Wichtiges Detail: Die Mutter übergibt der Tochter ein Tüchlein mit drei Blutstropfen von ihr als Talisman. Solange sie das Tuch bei sich hat, wird sie auch ihre königliche Würde bewahren.
Die zweite Postkarte zeigt das gleiche Motiv wie oben die Illustration von Hermann Vogel. Von der Zofe und ihren Absichten ist hier nicht viel zu erkennen, dafür sieht man ganz vorn das Tüchlein mit den Blutstropfen davonschwimmen. Dieses Detail ist für den Fortgang der Geschichte bedeutend, und seine Hervorhebung zeigt, dass mit der Bildserie das Märchen eher nacherzählt als illustriert werden soll.
Das folgende Bild zeigt die Schlüsselszene, in der die Gänsemagd mit ihrer Herde das Stadttor durchquert. Dort hängt der abgeschlagene Kopf ihres geliebten Pferdes Falada, mit dem sie vertrauliche Gespräche führt. Bemerkenswerte Details in diesem Bild sind der leicht geöffnete Mund des Pferdes (um sein Sprechen anzudeuten) und der aufmerksame Blick des kleinen Hütejungen, der die Gänsemagd später verpetzen wird.
Die drei übrigen Postkarten der Serie zeigen die Haarszene, die Königstochter als Dienstmagd im Schloss und schließlich die Überführung der betrügerischen Zofe.
Heinrich Vogeler
Der Maler und Grafiker Heinrich Vogeler illustrierte acht Märchen für eine Gesamtausgabe der Kinder- und Hausmärchen (Max Hesses Verlag, Leipzig, 1907). Alle diese Märchenillustrationen sind aufgebaut wie das hier gezeigte Bild der Gänsemagd. Das Hauptmotiv scheint auf einem größeren Bild zu liegen, das dadurch wie ein Rahmen wirkt. Auf diesem Rahmen sind weitere Motive und Szenen des Märchens zu sehen.
Im Falle der Gänsemagd ist das Hauptmotiv einmal mehr die Haarszene. Der dem Hut nachlaufende Junge ist erst auf den zweiten Blick zu erkennen. Dafür sieht man rechts den König, der die schöne Magd beim Kämmen beobachtet. Die Haare hängen lang herunter und wehen nicht im Wind. (Diese Darstellung ist tatsächlich näher am Text, denn die Gänsemagd selbst ist es, die durch einen Zauberspruch den Wind herbeiruft, um den aufdringlichen Hütejungen loszuwerden. Das heißt, es ist nicht einfach ein windiger Tag, sondern der Wind gilt allein dem Jungen.) Das dominante Motiv auf dem Rahmen ist das Schloss ganz oben im Bild, das andeutet, dass die Gänsemagd eigentlich eine Königstochter ist. Konsequenterweise ist die Schlüsselszene im Torbogen, in der Falada ihr ihre Erniedrigung vorhält, ganz unten zu sehen. Links unten die beiden Frauen zu Pferd auf ihrem Weg zum Schloss bzw. zum Bräutigam.
Franz Müller-Münster
Als Märchenillustrator ist der Maler und Grafiker Franz Müller-Münster (*1867, †1936) vor allem für seine Gesamtdarstellung des Märchens Brüderchen und Schwesterchen bekannt, die in der berühmten Reihe Künstler-Bilderbücher beim Verlag Josef Scholz, Mainz, erschien. Außerdem schuf er eine Reihe von Märchenillustrationen für Sammelbände mit ausgewählten Märchen der Brüder Grimm, so auch zur Gänsemagd. Das folgende Bild wurde für das Cover einer Auswahl von acht Märchen verwendet (Die Gänsemagd und andere Märchen, um 1930, Ensslin & Laiblin). Es zeigt die Schlüsselszene, die Zwiesprache der Gänsemagd mit Falada im Torbogen. Wie bei dem entsprechenden Bild von Kubel verfolgt der Hütejunge die Szene aufmerksam. Allerdings wirkt er hier älter, eher wie ein Halbstarker und somit etwa im Alter der Gänsemagd. Diese trägt ihr Haar abweichend zu den meisten anderen Illustrationen weder bedeckt noch geflochten, sondern als ziemlich eleganten Haarknoten im Nacken.
Arthur Rackham
Die folgende Illustration von Arthur Rackham (The Fairy Tales of the Brothers Grimm, Constable, 1909) zeigt ebenfalls die Schlüsselszene im Torbogen. Die Gänse und die Gänsemagd sind sehr reizend anzuschauen; trotzdem hat das Bild etwas Düsteres. Sehr ungewöhnlich ist zunächst, dass das Mädchen den Betrachter direkt anschaut. Ihr Blick gibt deutlich zu verstehen, dass sie mit ihrer Rolle als Magd sehr unglücklich ist, und ihre Haltung wirkt verzagt. Auch der Pferdekopf, den man erst auf den zweiten Blick erkennt, sieht ziemlich bemitleidenswert aus. Und natürlich tragen auch die Farben dazu bei, dass die Szene hier nicht idyllisch wirkt wie oben bei Kubel und Müller-Münster oder unten bei Liebich. Der Hütejunge fehlt, dafür ist rechts an der Mauer ein Schatten zu sehen. Der gehört zu dem jungen König, dem der Hütejunge von den Zwiegesprächen zwischen der Gänsemagd und dem Pferdekopf erzählt hat.
Es gibt zweite Märchenillustrationen von Rackham zur Gänsemagd, von denen eine die beliebte Haarszene zeigt. In seiner Version ist sie auf das Wesentliche konzentriert: Die Gänsemagd kämmt ihr wehendes Haar, der Hütejunge läuft nach seinem Hut. Von ländlicher Idylle lassen allenfalls die Gänse etwas ahnen.
Curt Liebich
Der Maler und Grafiker Curt Liebich (1868, 1937) hat in den 1920er-Jahren mehrere Sammelbände mit ausgewählten Märchen illustriert, die der Verlag Abel & Müller herausgegeben hat. Dieses Bild hier stammt aus dem Band Sneewittchen und andere Märchen, erschienen 1925. Es zeigt wieder die Schlüsselszene und wirkt, abgesehen von dem Blut an der Mauer unter dem Pferdekopf, sehr idyllisch.
Anne Anderson
Zum Abschluss unserer Zusammenstellung von Märchenillustrationen zur Gänsemagd noch einmal die Haarszene. Das folgende Bild der schottischen Illustratorin Anne Anderson (*1874, †1930) erschien erstmals in Grimm’s Fairy Tales, Collins, London, 1922.