Die Regentrude

Die Regentrude von Theodor Storm, veröffentlicht 1863, ist ein Kunstmärchen, das dem deutschen Realismus zuzuordnen ist. Die Titelfigur ist ein weiblicher Naturgeist, ähnlich der Frau Holle. Die Regentrude sorgt für Regen und Fruchtbarkeit, doch wenn niemand mehr an sie glaubt und keiner sie besuchen kommt, schläft sie vor Langeweile ein. Dann beginnt das Land zu verdorren und ihr Gegenspieler, der Feuermann, gewinnt die Oberhand. Dies ist die Ausgangssituation des Märchens, das mit den folgenden Sätzen beginnt:

Einen so heißen Sommer, wie nun vor hundert Jahren, hat es seitdem nicht wieder gegeben. Kein Grün fast war zu sehen; zahmes und wildes Getier lag verschmachtet auf den Feldern.

Der Feuermann tanzt über die Felder. Illustration Jan Kudláček (Die Regentrude. Artia Prag, 1972)

Inhalt

Ein sengend heißer Sommer lässt die Menschen im Dorf fast verzweifeln. Die Ernte verdorrt, und das Vieh verdurstet auf den Weiden. Schon in den Sommern davor hatte es zu wenig geregnet. Nur einer muss sich keine Sorgen machen: der Wiesenbauer, der vor einigen Jahren für wenig Geld sumpfige Wiesen aufgekauft hat, die unter normalen Umständen fast wertlos sind. Viele Bauern stehen mittlerweile bei ihm in der Schuld und müssen noch dankbar sein, wenn er sie durch Kredite vor der unmittelbaren Katastrophe bewahrt. So auch Mutter Stine, eine verwitwete Bäuerin, deren Sohn Andrees mit Maren, der Tochter des Wiesenbauern, aufgewachsen ist. Beide lieben sich und würden gern heiraten, was der Wiesenbauer nun nicht mehr als standesgemäß ansieht.

Angesichts der drohenden Hungersnot erwacht bei vielen Dörflern der alte, vorchristliche Glaube an die Regentrude. Die Naturgöttin ist nach diesem Glauben für den Leben spendenden Regen zuständig. Doch von Zeit zu Zeit schläft sie ein — besonders dann, wenn der Glaube an sie erlischt. Vor langer Zeit, als es schon einmal eine schlimme Dürre gab, hatte Stines Urahne, damals ein junges Mädchen, die Regentrude geweckt. Von ihr hat Stine den Spruch gehört, den man der schlafenden Trude ins Ohr sagen muss. Leider bekommt Stine, inzwischen gute Fünfzig, diesen Spruch aber nicht mehr vollständig zusammen.

Der Wiesenbauer hält von diesen alten Geschichten gar nichts. Er glaubt nicht an die Regentrude; er glaubt an sein Wetterglas. Und das steht seit acht Wochen auf beständig Schön. Gönnerhaft lässt er Stine wissen, dass ihr Andrees seine Maren haben kann, wenn es ihr gelingen sollte, binnen 24 Stunden Regen zu bringen. Kaum hat er das gesagt, steht seine Tochter neben ihm, die den Satz mitgehört hat. Die beiden Frauen beschließen, dass die Regentrude geweckt werden muss — die junge, weil sie endlich ihren Schatz heiraten will, die ältere aus purer Not, aber auch, weil sie sich durch des Wiesenbauern herablassende Haltung gegenüber ihrem Sohn gekränkt fühlt.

Kurz darauf kommt Andrees von den Feldern nach Hause, ein weiteres verendetes Schaf auf dem Rücken. Er berichtet von einem boshaften Kobold, der den Wasserzuber für die Schafe umgekippt und die Felder versengt hat. Mutter Stine ist sich sicher, dass der Kobold niemand anderes als der Feuermann war. Doch die für Andrees so unheimliche Begegnung hat auch ihr Gutes, denn der Kobold hat frohlockend einen Spruch aufgesagt — den Spruch für die Regentrude. Gemeinsam gelingt es Andrees und Mutter Stine den vollständigen Spruch zusammenzufügen:

Dunst ist die Welle,
Staub ist die Quelle!
Stumm sind die Wälder,
Feuermann tanzet über die Felder.

Nimm dich in acht!
Eh du erwacht,
holt dich die Mutter
heim in die Nacht

Andrees geht noch einmal zu den versengten Feldern, um von dem Kobold auch den Weg ins Reich der Regentrude zu erfahren. Das gelingt ihm recht einfach, indem er sich dumm stellt und damit dem Kobold schmeichelt. Ins Reich der Regentrude gelangt man, indem man durch eine hohle Weide hinabsteigt, die am anderen Ende des Waldes steht.

Am nächsten Morgen machen sich Maren und Andrees auf den Weg. Mutter Stine gibt ihnen ein Fläschchen Met, der noch von ihrer Urahne stammt und angeblich Wunder wirkt. Durch die hohle Weide gelangen die beiden in eine unbekannte Gegend, in der es mindestens so heiß und verdorrt ist wie bei ihnen zu Hause. Sie folgen einer Doppelallee von Weiden. Dass dieser Weg ein ausgetrocknetes Flussbett ist, werden sie erst auf ihrem Rückweg bemerken. Da die Bäume nicht dicht genug stehen, um wirklich Schatten zu spenden, sind sie bald völlig erschöpft. Sie besinnen sich auf den Met und fühlen sich tatsächlich nach wenigen Tropfen erfrischt und zuversichtlich.

Schließlich gelangen sie zu einem schönen Park. Sie spüren, dass sie ihr Ziel fast erreicht haben, auch wenn sie die Regentrude noch nicht sehen. Den Rest muss Maren allein erledigen, während Andrees hier auf sie wartet. Sie geht weiter und kommt zu einem hoch aufragenden Felsen, von dem wohl normalerweise Wasser in das ausgetrocknete Becken fällt, in dem sie steht. Und auf halber Höhe sieht Maren etwas, das sie zuerst für einen Felsbrocken hält. Doch dieses Etwas hat die Gestalt einer Frau — vor ihr steht wie versteinert und scheinbar tot die Regentrude.

Die Regentrude ist eingeschlafen. Illustration Jan Kudláček
Die Regentrude ist eingeschlafen. Illustration Jan Kudláček (Artia Prag, 1972)

Maren nimmt ihren ganzen Mut zusammen und flüstert der Gestalt das Sprüchlein ins Ohr. Die Regentrude erwacht und erkennt an der staubtrockenen Umgebung, dass sie sehr lange geschlafen haben muss. Die Schilderungen von Maren bestätigen ihr, dass nicht mehr viel Zeit bleibt, um die Natur zum Leben zu erwecken. Hätte sie noch ein wenig länger geschlafen, wäre der Feuermann auf der Erde Meister geworden und sie hätte »hinab [..] zu der Mutter unter die Erde« gemusst. (Was die zweite Strophe des Weckspruchs erklärt.)

Mit dem Aufwachen allein ist es leider nicht getan. Bevor es regnen kann, muss zuerst der Brunnen aufgeschlossen werden. Die Regentrude weiß genau, was zu tun ist, doch es ist an Maren, es tatsächlich zu tun. Dabei muss sie ihren Mut und ihren Verstand zusammennehmen. Auf dem Weg zum Brunnen greift scheinbar die knochige Hand des Feuermanns aus der getrockneten Schlammdecke nach ihrem Fuß. Trotzdem bückt sie sich tapfer, um, die Weisung der Regentrude befolgend, Wasser aus dem schmalen Rinnsal in ihren Krug zu schöpfen. Und als sie vor sich den Schlüssel für den Brunnen sieht und danach greifen will, merkt sie im letzten Augenblick, dass der glühend heiß ist. Geistesgegenwärtig gießt sie das Wasser aus dem Krug darüber, womit sie auch die letzte Prüfung bestanden hat. Entschlossen greift sie den abgekühlten Schlüssel und schließt den Brunnen (bzw. die Falltür) auf. Endlich beginnt es zu regnen.

Nachdem sie die Falltür zurückgeschlagen hat, kann sie unter sich das Erwachen der Natur beobachten. Alles beginnt zu grünen und zu blühen, zu duften und zu atmen. Nun hat Maren auch Zeit, die Regentrude genauer zu betrachten. Die wirkt gar nicht mehr vertrocknet und eingefallen, sondern ist eine wunderschöne, blühende Frau. Maren ist sogar ein wenig in Sorge, dass die schöne Frau Trude ihrem Andrees besser gefallen könnte als sie selbst.

Maren und die Regentrude haben sich viel zu erzählen. Die Regentrude erzählt von früher, als noch viele Frauen und Mädchen sie besuchen kamen. An die letzte, die besonders hübsch war, kann sie sich noch gut erinnern — es war die Urahne von Mutter Stine. Ihr hatte die Regentrude damals von ihrem Wiesenhonig geschenkt, den Met, mit dem sich Maren auf dem staubigen Weg gestärkt hat. Maren erzählt von ihrer Welt, unter anderem, dass das hübsche Mädchen von damals längst tot ist. Die Regentrude kennt weder das Altern noch den Tod.

Schließlich begleitet die Regentrude Maren zu dem wartenden Andrees. Dem fallen beim Anblick der schönen, fremdem Frau tatsächlich fast die Augen aus dem Kopf, weshalb Maren den Abschied kurz und bündig gestaltet. Der Heimweg der beiden scheint viel kürzer, denn sie können mit einem Kahn den nun wieder Wasser führenden Fluss, der sich als ihr Dorfbach entpuppt, hinab fahren. Alle im Dorf sind wegen des unverhofften Regens überglücklich. Nur der Wiesenbauer, der gerade eine Menge Heu verloren hat, kann sich nicht so recht freuen. Immerhin, gibt er zu, ist der Andrees ein anständiger Bursche.

Ein paar Wochen später, nachdem die letzten, schwer beladenen Erntewagen eingefahren sind, ist endlich Hochzeit. Der Regen hat sich wieder verzogen, die Sonne strahlt wie am Anfang. Als das Brautpaar die Kirche betreten will, zeigt sich plötzlich ein Wölkchen am Himmel, aus dem ein paar Tropfen in den Kranz der Braut fallen. Alle sind sich einig, dass das Glück bringt. Maren und Andrees aber wissen: Das war ein Gruß von der Regentrude.

Anmerkungen

Die Märchenfiguren und -motive sind in Storms Kunstmärchen in eine realistische Handlung eingebettet. Wie in den zitierten Eingangssätzen bereits anklingt, wird die Konfliktsituation durch eine extreme Dürreperiode herbeigeführt, in der die meisten Dorfbewohner ihre Existenzgrundlage verlieren. Der Wiesenbauer als einziger Profiteur der Dürre sieht sich in seiner rationalen Weltsicht bestätigt. Den anderen, so auch Mutter Stine, bleibt nichts anderes übrig, als Geld von ihm zu leihen und dafür ihr Land zu verpfänden. Die Figurenkonstellation auf der Märchenebene — Feuermann vs. Regentrude — entspricht auf der realistischen Ebene dem Konflikt zwischen dem Wiesenbauern und Frau Stine. Dadurch wird die Gegenüberstellung von rational begründetem Dominanzstreben (Wiesenbauer) und mythischer Naturverbundenheit (Stine) auf den Gegensatz von männlichem und weiblichen Prinzip gespiegelt. In dem jungen Paar (ihren Kindern Maren und Andrees) herrscht zwischen diesen Prinzipien ein harmonisches Gleichgwicht: Sie ist die Aktive, er »nur« ihr Unterstützer.