Der Jude im Dorn

Der Jude im Dorn ist ein Märchen der Brüder Grimm (Kinder- und Hausmärchen, KHM 110). Die Geschichte liefert ein Zeugnis des latenten Antisemitismus, der sich auch anhand anderer Publikationen sowie in Aufzeichnungen und Briefen der Brüder belegen lässt (ein weiteres Beispiel aus den Kinder- und Hausmärchen ist der Schwank Der gute Handel). Antisemitismus war keine Erfindung der Nationalsozialisten, sondern in Europa seit Jahrhunderten weit verbreitet. Er war vor allem »nichts Besonderes«, was die Grimms von ihren Zeitgenossen unterscheiden würde. Die Attribute, mit denen der Jude in diesem Märchen ausgestattet und dem tüchtigen, hilfsbereiten und etwas treudoofen Knecht gegenübergestellt ist, gehören zweifellos zum Standardrepertoire des Antisemitismus. Und da das Sammeln von Märchen durch die Brüder Grimm im Kontext der Formierung einer deutschen Nation (»Kulturnation«) gesehen werden muss, ist die Bedeutung des antisemitischen Märchens, in dem der Jude als »nicht zugehörig« erscheint, nicht so leicht wegzudiskutieren.

Der Jude im Dorn, Illustration Otto Ubbelohde
Der Jude im Dorn. Illustration Otto Ubbelohde (Kinder- und Hausmärchen, Turm-Verlag Leipzig, 1907-09)

Inhalt

Ein Knecht hat seinem Herrn treu gedient und bekommt nach drei Jahren endlich seinen Lohn ausgezahlt: ganze drei Heller. Der Knecht, der sich mit Geld nicht gut auskennt, hält das für einen guten Lohn und zieht frohgemut davon. Auf seinem Weg trifft er ein kleines, altes Männchen, das ihn auf seine gute Laune anspricht. Der Knecht meint, er habe allen Grund dafür, weil er heute seinen Lohn für drei Jahre Arbeit bekommen habe — drei Heller! Der Alte bittet ihn um das Geld, denn der Knecht sei schließlich jung und kräftig und könne leicht wieder neues Geld verdienen. Er dagegen …

Der Knecht ist ein gutmütiger Bursche, also willigt er ein. Zum Dank erklärt das Männchen, habe der Knecht drei Wünsche frei. Der erste Wunsch des Knechts ist ein Blasrohr, mit dem er alles trifft, wonach er zielt. Der zweite Wunsch ist eine Fidel, die, wenn er sie spielt, alle zum Tanzen zwingt. Und als drittes wünscht er sich, dass, wenn er jemanden um etwas bittet, dieser die Bitte nicht ausschlagen kann.

Die Wünsche werden ihm erfüllt, und als er seinen Weg fortsetzt, trifft er einen Juden, der einem singenden Vogel lauscht. Der Knecht schießt mit seinem Blasrohr nach dem Vogel, der getroffen in eine Dornenhecke fällt. Der Jude will ihn aus der Dornenhecke holen. Doch als er sich in das Gestrüpp vorgearbeitet hat, fängt der Knecht an, auf seiner Fidel zu spielen. Der Jude muss im Dorn tanzen, und bald hängen seine Kleider in Fetzen an den Stacheln. Er bietet dem Knecht einen Beutel voll Gold, damit er endlich aufhört zu fideln. Dieser Vorschlag gefällt dem Knecht; er steckt die Fidel weg und macht sich mit dem Gold davon. Der Jude schimpft ihm hinterher und geht schließlich zum Richter, um ihn anzuzeigen. Der Knecht wird festgenommen und wegen Raubes zum Tod am Galgen verurteilt.

Als man ihn zum Galgen führt, bittet der Knecht den Richter, ihm einen letzten Wunsch zu erfüllen. Und zwar würde er gern noch einmal auf seiner Fidel spielen. Der Richter mag ihm den Wunsch nicht abschlagen, und so kommt es, dass bald alle — Richter, Gerichtsdiener, Henker, Gaffer und auch der Jude — tanzen und nicht aufhören können. Schließlich ist der Richter bereit, das Todesurteil aufzuheben, wenn der Delinquent nur endlich aufhört zu spielen. Erschöpft sinken alle nieder. Der Knecht stürzt sich auf den Juden: er solle mit der Sprache herausrücken, wo er selbst das Gold her hat, sonst würde er wieder anfangen mit fideln. Der Jude gibt zu, das Geld gestohlen zu haben, und landet anstelle des Knechts am Galgen.

Motive und Anmerkungen

Das Tanzen in der Dornenhecke als Bestrafung eines Widersachers kommt u.a. im Märchen Der Liebste Roland vor, wo eine Hexe sich in der Hecke zu Tode tanzt. Zum Motiv der drei Wünsche siehe Zahlen im Märchen: Die Drei. Ein letzter, lebensrettender Wunsch vor der Hinrichtung wird z.B. auch den Helden der Märchen Das Feuerzeug und Das blaue Licht gewährt. Bei diesen beiden (einander sehr ähnlichen) Märchen rechnet der Held, ein entlassener Soldat, mit seinem früheren Dienstherrn, dem König ab, was hier gerade nicht der Fall ist. Der Herr, der den Knecht mit dem ungerechten Lohn abspeist, tritt nach der Eingangsszene nicht mehr auf. Stattdessen muss der Jude als Sündenbock herhalten, wobei ihm, dem Sündenbockprinzip folgend, nachträglich negative Eigenschaften zugeschrieben werden, um das Handeln des guten Knechts zu rechtfertigen.

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