Märchen in Bildern: Hänsel und Gretel
Die Frage, ob Märchen nicht zu grausam sind, um sie Kindern zu erzählen, stellt sich bei Hänsel und Gretel gleich doppelt. Nicht nur, dass die Hexe darauf aus ist, Hänsel erst zu verspeisen, wozu sie ihn vorher mästet – eher noch schlimmer ist die Vorstellung, dass Eltern ihre eigenen Kinder im Wald aussetzen, wo sie vermutlich von wilden Tieren zerfetzt werden, was ihnen ein weniger schlimmer Tod scheint, als sie langsam verhungern zu sehen. Trotzdem ist Hänsel und Gretel eines der populärsten Grimm’schen Märchen, wozu die vielen fantasievollen Märchenillustrationen insbesondere des Lebkuchenhauses nicht wenig beigetragen haben dürften. Andere beliebte Bildmotive zeigen Mutter und Vater, wie sie ihre Kinder in den Wald führen, die Hexe, wie sie Hänsel, ihren künftigen Braten, in seinem Käfig füttert oder auch Gretel, die ihren Mut zusammennimmt und die Hexe in den Ofen schubst.
Theodor Hosemann
Die ältesten Illustrationen in unserer Zusammenstellung stammen von Theodor Hosemann (*1808, †1857) und sind Teil einer Serie von sechs Bildern (Hänsel und Gretel, Nr. 53 der Reihe Deutscher Bilderbogen für Jung und Alt, Verlag Gustav Weise, Stuttgart, um 1870). Ausgewählt wurden die von Illustratoren am häufigsten in Szene gesetzten Motive, nämlich die Kinder am Knusperhäuschen:
und im zweiten Bild sehen wir, wie Gretel die Hexe in den Ofen schubst, während Hänsel von seinem Gefängnis aus zuschaut.
Von den anderen vier Bildern des Bilderbogens zeigen drei die Kinder mit ihren Eltern und eines die Kinder auf sich allein gestellt im Wald.
Alexander Zick
Alexander Zick (*1845, †1907) zeigt ebenfalls das Standardmotiv – die Szene, in der die Kinder am Hexenhäuschen ankommen, sich im Moment aber noch gerettet glauben (Märchen für Kinder, Verlag Grote, Berlin, um 1880).
Ein zweites Hänsel-und-Gretel-Bild des Künstlers zeigt die Geschwister, wie sie, sich aneinander kuschelnd, durch den Wald irren.
Carl Offterdinger
Von Carl Offterdinger (*1829, †1889) gibt es ebenfalls zwei Märchenillustrationen zu Hänsel und Gretel (Mein erstes Märchenbuch, um 1885). Dabei ist die Auswahl der Bildmotive etwas ungewöhnlich, denn auf keinem ist die Hexe oder das Knusperhäuschen zu sehen. Im ersten Bild markiert Hänsel den Weg mit Steinchen; im Hintergrund die Eltern mit Gretel.
Das zweite Bild zeigt Hänsel und Gretel auf dem Heimweg (nachdem sie die Hexe besiegt haben), doch wird im Text eigentlich kein Schwan, sondern eine Ente (Symbol für Mütterlichkeit) erwähnt, die die Kinder über das trennende Wasser trägt.
Hermann Vogel
Herrmann Vogel (*1854, †1921) illustrierte eine Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen, die 1894 beim Verlag Braun & Schneider erschien. Seine Version des Hexenhäuschens ist geradezu der Prototyp des Lebkuchenhauses. Denkt man sich die Lebkuchen weg, sieht es aber dem Wohnhaus des Künstlers in Trebes (bei Plauen im Vogtland, Sachsen) nicht ganz unähnlich (zu sehen z.B. bei Wikipedia).
Paul Meyerheim
Die Illustrationen von Paul Meyerheim (*1842, †1915) erschienen erstmals in der 20. Auflage der Kleinen Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen (1874). Hier wieder das Standardmotiv: Während sich die ausgehungerten Kinder an den Lebkuchen gütlich tun, freut sich die Hexe schon auf den Braten.
Albert Weisgerber
Die expressionistischen Bilder von Albert Weisgerber (*1878, †1915) stechen auf den ersten Blick aus der Masse der meist naturalistisch geprägten Märchenillustrationen hervor. Der Band Grimms Märchen erschien in Gerlachs Jugendbücherei, Verlag Gerlach & Co, Leipzig, bereits 1901. Die Bilder wirken auf heutige Betrachter jedoch erstaunlich modern, dynamisch und kraftvoll.
Otto Ubbelohde
Otto Ubbelohde (*1867, †1939) illustrierte die 20. Auflage der Kinder- und Hausmärchen, erschienen beim Turm-Verlag, Leipzig, 1907-09. Das erste Bild zeigt, wie Hänsel und Gretel von den Eltern im Wald ausgesetzt werden.
Und das zweite, wie sie am Hexenhäuschen ankommen:
Ein drittes Bild zeigt das Motiv der Heimkehr der Kinder mithilfe der Ente.
Arthur Rackham
Arthur Rackham (*1867, †1939) war ein ungeheuer produktiver britischer Illustrator, dessen Bilder immer etwas düster bis unheimlich wirken. Er schuf unter anderem eine schwer zu überschauende Zahl von Bildern zu Grimms Märchen, die zum Teil in mehreren Sammelbänden verwendet wurden. Die beiden Märchenillustrationen zu Hänsel und Gretel erschienen zuerst in The Fairy Tales of the Brothers Grimm, Constable, London, 1909. Das erste Bild zeigt wieder das Standardmotiv, die Ankunft der Kinder am Hexenhäuschen.
Das zweite, ziemlich gruselige Bild, zeigt den eingesperrten Jungen, der ein Stöckchen (statt seines Fingers) durchs Gitter steckt:
Richard Flockenhaus
Auf dem Bild von Richard Flockenhaus (*1876, †1943) wirkt alles viel niedlicher. Vor dem Hexenhaus blühen Blumen, die Sonne scheint und der aus dem Schornstein aufsteigende Rauch verheißt Gemütlichkeit. Die Hexe hat sogar hübsche Gardinen an ihren Fenstern. Nur die Katze stört den freundlichen Gesamteindruck. Aus Die schönsten Märchen der Brüder Grimm, Verlag Jugendhort, Berlin, 1910.
Jessie Willcox Smith
Das Markenzeichen der amerikanischen Illustratorin Jessie Willcox Smith (*1863, †1935) ist die einfühlsame Darstellung von kleinen Kindern. Bei Gretel überwiegt offensichtlich die Scheu und instinktive Abneigung gegenüber der Hexe. Hänsels Körpersprache dagegen signalisiert Anspannung, gepaart mit Neugier. Aus Child’s Book of Stories, Duffield and Company, New York, 1911.
Anne Anderson
Die schottisch-amerikanische Illustratorin Anne Anderson (*1874, †1930) stattete ihre Hexe mit Attributen aus, die man von einer Hexe erwarten darf. Sie hat einen beeindruckenden Hut, eine schwarze, Buckel machende Katze und oben auf dem Haus sitzt eine Eule. Körperhaltung und Mimik der Kinder lassen vermuten, dass sie von Anfang an wenig Vertrauen zu der Hexe haben. Aus Old, Old Fairy Tales, Nelson & Sons, New York, 1935.
Eugen Klimsch
Die Hänsel-und-Gretel-Illustration von Eugen Klimsch (*1839, †1896) erschien, soweit sich dies recherchieren ließ, vermutlich erstmals in dem Band Grimms Märchen, Verlag Loewe, Stuttgart, 1923. Von der Anmutung her wirkt es deutlich älter, was tatsächlich auch der Fall sein muss, wenn man das Sterbejahr des Illustrators bedenkt. Irritierend der Kontrast zwischen den properen, blonden und rotwangigen Kindern – von der Ästhetik her an Werbegrafik erinnernd – und dem Bildinhalt: Hänsel, der in einer Art Karnickelstall von Gretel gefüttert (oder gemästet?) wird.