Armut und Reichtum im Märchen

Ein typisches Merkmal von Volksmärchen ist das holzschnittartige Nebeneinanderstellen von scharfen Gegensätzen. Eines dieser Gegensatzpaare ist das Motiv von Armut und Reichtum. Sofern es stimmt, dass die uns bekannten, kanonisierten und verschriftlichten Märchen der Erzähltradition des einfachen Volkes entsprungen sind, dann ist die Häufigkeit des Motivs von Armut und Reichtum auch nicht verwunderlich: schließlich waren die meisten Menschen in den meisten Ländern die meiste Zeit über arm.

Die Sterntaler. Illustration Gertrud Caspari (Kommt ins Märchenreich, Alfred Hahn’s Verlag, Leipzig, 1952)

Märchen vom Hunger und Märchen von der Armut der Seele

Bei der Interpretation dieses Befundes sollte man freilich keine vorschnellen Schlüsse ziehen. Wenn im Märchen von Armut die Rede ist, dann kann dies materielle Not bedeuten, aber auch Entbehrungen der Seele. Allgemein kann wohl die Faustregel gelten, dass archetypische Volksmärchen eher symbolisch zu deuten sind, während die Kunstmärchen v.a. des 19. Jahrhunderts, wenn sie Armut und Reichtum thematisieren, vor dem Hintergrund der zunehmenden Industrialisierung und Entwurzelung eindringliche sozialkritische Erzählungen im Gewand des Märchens sind.

Sozialkritik

Es scheint einfacher, die Betrachtung von Märchen über Armut und Reichtum entgegen der Chronologie mit der zweiten Art von Märchen zu beginnen. So ist beispielsweise die Geschichte vom Kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzchen (1846) von Hans Christian Andersen eine einzige Anklage: Ein kleines, bitterarmes Mädchen, das für seinen Lebensunterhalt auf der Straße Streichhölzer verkaufen muss, erfriert am Weihnachtsabend mit Blick auf die Lichter in den festlich geschmückten Stuben, zu denen sie niemals Zutritt haben wird. Sie ist allein mit dem letzten wärmenden Gedanken an Gott im Himmel — und an ihre Großmutter, die schon dort ist und als einziger Mensch jemals gut zu ihr war. Man kann dies schlicht finden, man kann sich für die Rührung, die man empfindet schämen. Aber man kann kaum verdrängen, dass Armut in einem reichen Land etwas zutiefst Ungerechtes und Beschämendes ist.

Ähnlich anklagend ist das Märchen Der glückliche Prinz (1888) von Oscar Wilde. Hier kommt — in Gestalt des glücklichen Prinzen — die Perspektive des gutherzigen, aber abgeschottet lebenden Reichen ins Spiel, der, als er von der Not der Armen erfährt, nach und nach alles hergibt, am Ende sogar sein bleiernes Herz und seinen Freund, einen Vogel. Im Vergleich zum Mädchen mit den Schwefelhölzchen keimt hier zumindest eine Hoffnung auf, genährt aus Aufklärung und Sozialromantik, auch wenn sie sich am Ende nicht erfüllt, nämlich dass „die Reichen“ (oder einige von ihnen), wohl helfen würden, wenn sie nur die Wahrheit über das Leben der Armen wüssten.

Von der Macht und der Ohnmacht des Geldes

Eines der bekanntesten und komplexesten Märchen zu Armut und Reichtum ist das schon erwähnte Kalte Herz von Wilhelm Hauff. Hier geht es nicht um materielle Not, sondern den mit Reichtum verbundenen Status, die mit Armut verbundene Ausgrenzung, vor allem aber um die Frage, was das Streben nach Reichtum und Status mit unseren Seelen und unseren Beziehungen zu anderen Menschen macht. Interessant ist bei dieser Geschichte auch der Wechsel zwischen realistischer Erzählung (beginnende Industrialisierung im Schwarzwald) und der Märchenwelt mit dem bösen Holländer-Michl und dem hilfreichen Glasmännchen.

Zwischen Realismus und Märchen springt auch Theodor Storms Erzählung von der Regentrude hin und her. Hier stehen sich auf der realistischen Ebene als Antagonisten die arme Witwe Frau Stine und der reiche Wiesenbauer gegenüber. Frau Trine hat sich ihren Glauben an die Tradition und die alten Geschichten, insbesondere an die Regen spendende Regentrude bewahrt. Dagegen glaubt der Wiesenbauer nur an den neuen Gott, das Geld. Damit steht er, ohne es zu wissen, mit Regentrudes Gegenspieler, dem Feuermann im Bunde. Hinter dem Konflikt zwischen arm und reich steht also noch ein anderer, vielleicht tiefgreifender Konflikt, nämlich der zwischen unvereinbaren Wertevorstellungen.

Der Gegensatz zwischen Armut und Reichtum wird auch in vielen schwankartigen Märchen aufgegriffen. Diese Märchen handeln davon, wie der gewitzte Arme einen Sieg über den durch seine Gier verblendeten Reichen erringt. Ein Beispiel ist Der kleine und der große Klaus von Hans Christian Andersen. Andere Märchen variieren das Thema des aus dem Heer entlassenen, ehemaligen Soldaten. Mittellos, aber gewitzt und unerschrocken nimmt der es selbst mit dem Teufel und Anverwandten auf, siehe z.B. Des Teufels rußiger Bruder (Brüder Grimm) oder Das Feuerzeug (Hans Christian Andersen).

Von der Armut der Kinder

Viele Märchen erzählen von der Armut der Kinder, etwa die Grimm’schen Märchen Hänsel und Gretel, Sterntaler oder Marienkind. Hier bedeutet Armut gleichzeitig Verlassensein und den Verlust der Geborgenheit. Die auf sich allein gestellten Kinder müssen, um ihre Situation zu überwinden, die ihnen vertrauten Handlungsmuster hinter sich lassen, sich emanzipieren und vielleicht sogar etwas »Unmoralisches« tun. So stößt etwa Gretel die Hexe in den Ofen, anstatt darauf zu warten, dass ihr eingesperrter Bruder irgendeine rettende Idee hat. Ganz ähnlich verhält es sich in Perraults Däumling, den seine verarmten Eltern zusammen mit ihren anderen sechs Söhnen im Wald aussetzen, wo sie in die Hände von Menschenfressern geraten. Auch hier ist es der geringste der Brüder (der kümmerliche, kleine Däumling), der die Initiative ergreift; allerdings kehrt er selbst (im Gegensatz zu seinen Brüdern) nach seinem emanzipatorischen Schritt nicht mehr zu den Eltern zurück.

Einen ganz anderen Weg, nämlich den der christlichen Barmherzigkeit, wählt das Sterntaler-Kind, das in bitterster Not die Bedürftigkeit anderer erkennt und buchstäblich sein letztes Hemd hergibt. Auch Marienkind ist ein Märchen, das stark von christlichen Moralvorstellungen geprägt ist. Hier bewahrt die Jungfrau Maria das Töchterchen eines armen Holzfällers vorm Hungertod, indem sie das Mädchen zu sich nimmt, das später aber durch Nichteinhaltung eines Versprechens Schuld auf sich lädt. Die schicksalhafte Verknüpfung zwischen Armut und Schuld (Schulden?) kann erst im dramatischen Finale aufgelöst werden, als das Mädchen (inzwischen eine junge Mutter) bereits auf dem Scheiterhaufen steht und in letzter Sekunde von Maria erlöst wird.

Reichtum und Glück

Die Vielzahl der Märchen über Prinzen und Prinzessinnen, Königstöchtern und Königssöhnen lässt natürlich darauf schließen, dass Menschen unabhängig von ihrem eigenen Status sich immer schon durch Erzählungen von Reichtum – Gold, Edelsteinen, Schlössern, prachtvollen Kleidern – haben faszinieren lassen. Oft geht das Streben nach Reichtum mit dem Streben nach persönlichem Glück Hand in Hand, etwa, wenn ein junger Mann niederen Standes sich aufmacht, die Hand der Königstochter zu gewinnen — und das halbe Königreich dazu (siehe z.B. Die goldene Gans, Das tapfere Schneiderlein). In anderen Märchen ist der Märchenheld / die Märchenheldin zu Beginn der Handlung reich, doch der Reichtum erweist sich wie das Glück als etwas, das von heut auf morgen verschwinden kann und erst nach schweren Prüfungen wieder zu erringen ist. Insofern ist wohl Reichtum im Märchen als Metapher für das Glück (günstiges Schicksal) zu verstehen. Und das Glück gehört natürlich dem Tüchtigen.

Auch in den Märchen vom Wünschen (siehe z.B. Der Arme und der Reiche) geht es um das Verhältnis von materiellem Wohlstand und innerer Zufriedenheit. Die Wünsche des Reichen an Gott, eine gute Fee oder Zauberin sind »töricht«; schon das Wünschen selbst bedeutet für ihn Stress, da jeder geäußerte Wunsch den Verzicht auf etwas noch Wertvolleres bedeuten könnte. Er gerät in groteske Situationen und muss am Ende einen Verlust verbuchen. In anderen Märchen ist es der Teufel oder eine andere Symbolfigur des Bösen, der dem Märchenhelden anbietet, Wünsche zu erfüllen. Bei diesem Pakt mit dem Teufel verkauft oder verpfändet der Märchenheld seine Seele, um materiellen Reichtum zu erlangen. In schwankartigen Märchen gelingt es dem Helden aber am Ende, den Teufel zu überlisten (Der Schmied von Jüterbogk). In Kunstmärchen wie Das kalte Herz gelangt der Held zu tiefer Reue und kann dadurch das Böse besiegen.

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