Tiere im Märchen: Die Kuh

Die Domestizierung von Rindern war ein wichtiger Faktor für die Sicherung und Stabilisierung der Lebensgrundlagen der Völker. Die Versorgung mit Milch und Fleisch ermöglichte sesshaftes Leben und häusliches Glück, während der Verlust von Rindern (sei es durch Naturgewalten oder durch Raub) nicht selten kriegerische Auseinandersetzungen zur Folge hatte. Als Milchvieh hat das weibliche Rind, also die Kuh, weit größere Bedeutung als der Stier. Während dieser für Kraft – gepaart mit Aggressivität – steht, symbolisiert die Kuh den nährenden Aspekt und steht für Ausgeglichenheit, Mütterlichkeit und andauernde Fruchtbarkeit.

Hans tauscht sein Pferd gegen eine Kuh. Illustration von Paul Meyerheim zu dem Märchen Hans im Glück
Hans im Glück: Hans tauscht sein Pferd gegen eine Kuh. Illustration Paul Meyerheim (Kinder- und Hausmärchen, 20. Aufl. der Kleinen Ausgabe, 1874)

Das Wohlergehen der Kühe hatte entscheidende Bedeutung für das Wohlergehen ihrer Halter. Daher verwundert es nicht, dass sie in frühen Mythologien eine große Rolle spielen. In der ägyptischen Mythologie ist Nut die Göttin des Himmels, die als Mutter der Gestirne angesehen wird. Man stellte sich vor, dass sie jeden Abend die Sonne verschlingt und sie am Morgen wieder aus ihrem Schoß entlässt. Damit ist sie ein Sinnbild für den ewigen Kreislauf. Die Göttin Nut wurde oft als nackte Frau, teilweise aber auch als »Himmelskuh« dargestellt. In der nordischen Mythologie entsprang die Urkuh Audhumbla dem Eis. Innerhalb von drei Tagen leckte sie den ersten Menschen aus dem salzigen Gestein. Die Verbindung der Kuh mit Schöpfungsmythen verblasst bzw. verschwindet in späteren Kulten. Wo sie noch vorkommt, steht der nährende Aspekt im Vordergrund.

In unserem heutigen Sprachgebrauch lässt sich feststellen, dass der Begriff »heilige Kuh« zunehmend einen abwertenden Beigeschmack erfährt. Grundsätzlich meint er ein Tabu, jedoch legt der Subtext nahe, dass das Festhalten an diesem Tabu keine rationale Grundlage hat. Der Tiefpunkt der Degradierung der Kuh vom kosmologischen Urwesen zum friedfertigen Herdentier spiegelt sich in dem Schimpfwort »dumme Kuh« wider.

Im europäischen Märchen spielt die Kuh eine im Vergleich zu ihrer mythologischen Bedeutung eher geringe Rolle. Wo sie überhaupt auftritt, ist sie eher Requisit als handelnde Figur. Trotzdem lassen sich mythologische Wurzeln teilweise noch erkennen. In verschiedenen Märchen (Daumerlings Wanderschaft, Daumesdick, Tom Thumb) werden winzig kleine Jungen von einer Kuh verschluckt. Auf die eine oder andere Weise kommen sie wieder aus ihrem Bauch heraus.

Ein häufiges Motiv ist das Hüten der Kühe durch junge Mädchen (z.B. in De drei Vügelkens). Dies kann als Dienst an der Großen Mutter (Vorbereitung auf das Frau werden/sein) interpretiert werden. So beispielsweise auch in dem Märchen Das Natternkrönlein (Ludwig Bechstein), in dem eine gutherzige Magd die Kühe ihres geizigen Herrn versorgt und nebenbei eine im Stall lebende (Glück bringende) Schlange mit Milch füttert. Eine ähnliche Bedeutung hat die Kuh in dem Märchen Das Waldhaus. In diesem besorgen drei Schwestern nacheinander den Haushalt für einen alten Mann. Aber nur die jüngste denkt dabei auch an die Tiere des Alten, darunter eine Kuh.

Am häufigsten kommen Kühe im Märchen als Symbol für Reichtum vor. Arme Leute besitzen nur eine einzige Kuh. In Zeiten der Not müssen sie diese schlachten oder verkaufen, um das nackte Überleben zu sichern (z.B. Das Bürle, Die Flasche, Jack und die Bohnenranke). Bei Hans im Glück steht die Kuh ziemlich genau in der Mitte einer Kette von Besitztümern mit absteigendem Wert. Sie ist weniger wert als der Goldklumpen oder das Pferd, aber immerhin mehr als ein Schwein oder eine Gans. Gelegentlich symbolisiert eine große Kuhherde ähnlich wie Gold, Silber und Edelsteine unendlichen Reichtum (z.B. Der Vogel Greif).

Siehe auch: Übersichtsartikel zur Rolle und Funktion von Tieren im Märchen

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