Tiere im Märchen: Die Gans

Wenn in Märchen Gänse auftreten, dann in aller Regel als Haustiere. Mit der Gans verbunden sind weiblich-mütterliche Aspekte. Sie nährt durch ihr Fleisch und ihre Eier. Ihre Federn werden für wärmenden Daunenbetten verwendet und durch ihre Wachsamkeit, gepaart mit Aggressivität, dient sie dem Menschen als Beschützerin. Da Gänse den heidnischen Göttinnen heilig waren, wurden sie im Aberglauben oft mit weisen Frauen und Hexen in Verbindung gebracht. Daher verwundert es nicht, dass Gänse im Märchen oft als Figuren mit übernatürlichen Fähigkeiten oder Verbindungsglied zu übernatürlichen Wesen auftreten.

Die vielleicht bekannteste »Märchengans« ist die goldene Gans im gleichnamigen Grimm’schen Märchen. Der Dummling findet sie unter der Wurzel eines gefällten Baumes. Ihre goldenen Federn haben die fantastische Eigenschaft, dass jeder an ihr kleben bleibt, der sie anrührt. Mit der goldenen Gans unterm Arm und einem immer länger werdenden Gefolge bringt der Dummling die Königstochter zum Lachen. Eine umgekehrte Variante dieses Märchens ist in dem wesentlich älteren Märchenzyklus von Giambattista Basile (Pentameron) enthalten. Es trägt den schlichten Titel La paparaDie Gans. In diesem Fall ist ein junges Mädchen die Besitzerin der Gans, mit deren Hilfe sie einen Königssohn erobert.

Die Königstochter führt ihre Gänse zur Weide. Illustration von Franz Müller-Münster zu dem Märchen die Gänsemagd
Die Gänsemagd. Illustration Franz Müller-Münster (Die Gänsemagd und andere Märchen, Verlag Ensslin & Laiblin, 1929)

Ähnlich bekannt wie Die goldene Gans ist das Grimm’sche Märchen Die Gänsemagd. Darin wird eine Königstochter zur Magd erniedrigt und muss Gänse hüten, während ihre Dienerin ihren Platz einnimmt. Die Gänse symbolisieren die Verbindung der Königstochter mit ihrer fernen Mutter. Indem sie die Gänse hütet (der Mutter dient und sie ehrt), wird sie gleichzeitig von ihnen behütet. Sinnigerweise fliegt dem Gänsejungen der Hut weg, als er während des gemeinsamen Gänsehütens versucht, ihr Haar zu berühren. Eine besondere Betonung liegt bei diesem Märchen auf dem Stadttor, durch das die Gänsemagd ihre Herde täglich führen muss. Die Königstochter ist in der Phase, in der sie die Gänse hütet, sozusagen noch nicht richtig angekommen. Sie ist noch nicht wirklich in der Stadt, in der sie eigentlich den jungen König heiraten sollte, und auch nicht bei sich selbst als Frau und künftige Königin.

Ein weiteres Märchen der Brüder Grimm, in dem Gänse eine hervorragende Rolle spielen, ist Die Gänsehirtin am Brunnen. Auch in diesem Märchen muss eine Königstochter Gänse hüten, allerdings, weil sie von ihrem Vater verstoßen wurde. Außerdem wird hier auf die zwielichtige Natur der Gans als Begleiterin von weisen Frauen (Hexen) Bezug genommen. Denn die Gänsehirtin verrichtet ihren Dienst bei einer zauberkräftigen, uralten Frau. Sie selbst hat die Gestalt einer alten Frau (Tochter der Uralten) angenommen. Nur um Mitternacht kann sie für kurze Zeit ihre wahre Gestalt annehmen und sich am Brunnen waschen. Auch von diesem Märchen gibt es einen Vorläufer bei Basile, nämlich Le doie pizzelleDie beiden Kuchen.

Neben Märchen wie diesen, in dem die Gans als Symbol zu interpretieren ist, gibt es natürlich viele weitere, in denen Gänse vorkommen, jedoch eher als gewöhnliches Haustier, das einen gewissen Wohlstand des jeweiligen Besitzers illustriert. So zum Beispiel bei Hans im Glück als eines von mehreren Tauschobjekten, bei Bruder Lustig in Form eines Gänsebratens oder in verschiedenen Tiermärchen, in denen sich der Fuchs in den Gänsestall schleicht.

Desweiteren kommen in einigen Märchen Wildgänse vor, deren Flug in den hohen Norden die Menschen aus verschiedenen Gründen fasziniert. Die bekannteste literarische Erwähnung von Wildgänsen findet sich allerdings nicht in einem Märchen, sondern in Selma Lagerlöfs Kinderbuchklassiker Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen.

Siehe auch: Übersichtsartikel zur Rolle und Funktion von Tieren im Märchen

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