Prinzen und Prinzessinnen im Märchen
Prinzen und Prinzessinnen (bei den Brüdern Grimm häufiger: Königssohn und Königstochter) sind zentrale Figuren im Märchen, wobei die Prinzessin die beliebteste Identifikationsfigur von Mädchen ist. Die Königskinder treten auf als Held bzw. Heldin, als Retter oder Erlöserin, oder auch als der »Preis«, den ein einfacher junger Mann oder ein einfaches junges Mädchen aus dem Volk nach Bestehen typischer Märchenprüfungen als Ehepartner gewinnt.
Meist sind die Prinzen und Prinzessinnen im Märchen von großer Schönheit, die mit Superlativen und poetischen Vergleichen (»schön wie der helle Tag«) gepriesen wird. Auch Kleidung und persönlicher Besitz werden als besonders edel beschrieben, wobei die Farben Gold und Weiß eine besondere Rolle spielen. Die Schönheit ist sowohl im Sinne von äußerlicher Attraktivität als auch von Tugendhaftigkeit und edlem Wesen zu verstehen. Ihr Alter grenzt die Prinzen und Prinzessinnen vom König bzw. der Königin ab. Der Prinz ist ein Jüngling, die Prinzessin gerade eben im heiratsfähigen Alter. Dies verweist auf das zentrale Motiv von Märchen mit Prinzen und Prinzessinnen. Es geht darum, eine Braut bzw. einen Bräutigam zu gewinnen, gleichzeitig aber auch um den persönlichen Reifeprozess, das Überschreiten der Schwelle von der Kindheit zum Erwachsenenalter. Dabei gibt es unterschiedliche Grundtypen.
Der Prinz als jugendlicher Held
Der Prinz wird von seinem Vater in die weite Welt geschickt, um eine schwierige Aufgabe zu lösen (z.B. Heilung für den kranken Vater bringen: Das Wasser des Lebens), eine einzigartig wertvolle Präziose zu holen (z.B. Der goldene Vogel) oder auch mit dem direkten Auftrag, sich eine Braut zu suchen (Die drei Federn, Die Froschprinzessin). Dieser Prinz ist meist der jüngste von drei Brüdern und im Gegensatz zu den beiden Älteren tugendhaft, aber als unterentwickelt verkannt. Im Laufe der Handlung besteht er mehrere Bewährungsproben und erweist sich in diesem Reifungsprozess als einzig würdiger Nachfolger des alten Königs. Zu seinen Abenteuern gehört oft auch die Befreiung einer Prinzessin, die er dann als Braut an den väterlichen Hof heimführt.
Der Prinz als Retter, Befreier, Erlöser
Der Prinz streift im Wald umher, evtl., weil er sich bei der Jagd verirrt hat, und findet dort ein schönes, einsames Mädchen, in das er sich verliebt. In diesen Märchen ist der Prinz nicht die Hauptperson, sondern der Befreier der eigentlichen Märchenheldin, die ein einfaches Mädchen oder eine Prinzessin sein kann.
Rapunzel wird beispielsweise von einer Fee in einem Turm gefangengehalten, wo sie verbotene Besuche von ihrem Prinzen erhält. Dornröschen wird von ihrem Prinzen gleich doppelt befreit: zuerst von der Dornenhecke, die ihr Schloss überwuchert hat, dann von dem tiefen Schlaf, der seit hundert Jahren gefangen hält. In Brüderchen und Schwesterchen lebt ein Mädchen mit ihrem Bruder im Wald, da ihn die böse Stiefmutter in ein Reh verwandelt hat. Nach der Hochzeit mit dem Prinzen fällt sie vorübergehend einer Intrige zum Opfer. Doch dank der Treue ihres Gemahls wird sie rehabilitiert und ihre Befreiung vollständig, indem auch ihr Bruder befreit wird (seine Menschengestalt zurück erhält).
Märchen von verzauberten Prinzen und Prinzessinnen
Hier ist es der Prinz, der befreit oder erlöst werden muss. Denn er steckt in einer »falschen Haut« (Froschkönig), wurde von einer Hexe oder bösen Fee in ein (Un-)Tier verwandelt und kann von diesem Fluch nur durch eine liebende Frau erlöst werden (Die Schöne und das Biest, Das singende, springende Löweneckerchen, Der Eisenofen und viele andere).
Oft ist das Motiv des Tierbräutigams kombiniert mit der Suchwanderung. Der verzauberte Prinz und seine Erlöserin gehen zwar die potentiell rettende Verbindung ein, doch diese wird durch einen Tabubruch zerstört. Der Prinz verschwindet und die Heldin muss die ganze Welt durchwandern und nach ihm suchen.
In dem französischen Märchen Der blaue Vogel und in dem russischen Märchen von Finist, dem hellen Falken hat der Prinz bzw. der Zarensohn tagsüber die Gestalt eines Vogels. Doch nachts besucht er seine Braut in menschlicher Gestalt.
Die Prinzessin, die nicht heiraten will
Ein König sucht einen Bräutigam für seine Tochter. Die Tochter ist schön (wie es sich für eine Prinzessin gehört), hat aber an jedem etwas auszusetzen. Deshalb kommen in vielen Märchen nicht nur standesgemäße Bewerber in Betracht, sondern der König verkündet, dass er seine Tochter dem Ersten zur Frau geben wird (und das halbe Königreich dazu), der gewisse Prüfungen besteht (Die Jungfrau auf dem Glasberg) oder Rätsel löst (Vom klugen Schneiderlein). Im Märchen Die goldene Gans gilt es, die Königstochter zum Lachen zu bringen. Die Sache hat allerdings einen Haken: Wer zur Prüfung antritt und sie nicht besteht, bezahlt den Versuch mit dem Leben. Oft tritt hier das Motiv der drei Brüder auf. Während die beiden Älteren scheitern, besteht ausgerechnet der Jüngste (der Dummling) die Prüfung. Bei diesem Märchentyp ist nicht die Prinzessin die Hauptfigur, sondern der erfolgreiche Bewerber.
Es gibt aber auch Märchen von heiratsunwilligen Königstöchtern, bei denen die Prinzessin im Mittelpunkt steht. Bei diesem Märchentyp fällt der Prinzessin die Ablösung von ihrem treusorgenden Vater schwer. Deshalb weicht sie seinem Drängen, endlich einen der zahlreichen Freier zu erhören, unter immer neuen Vorwänden aus. In Das Meerhäschen spielt die Königstochter mit ihren Freiern Verstecken, wobei diese (siehe oben) mit dem Leben bezahlen. Eine völlig andere Wendung nimmt das Märchen vom König Drosselbart. Auch die Heldin dieses Märchens will nicht heiraten und verspottet ihre Freier. Doch ihrem Vater wird das Treiben der Tochter zu bunt. Er verheiratet sie mit dem Erstbesten, einem dahergelaufenen Spielmann, an dessen Seite sie selbst diverse Prüfungen bestehen muss.
Demütigung, Gewalt, Inzest
In einem weiteren Typ von Prinzessinnen-Märchen tritt die Prinzessin als Heldin auf, die ihren königlichen Status vorübergehend verliert und sich gegen Demütigung, Verrat und Gewalt zur Wehr setzen muss. Die Gänsemagd ist eigentlich eine Königstochter, muss aber niedrige Dienste verrichten, nachdem ihre intrigante Zofe ihre Position eingenommen hat. In dem Märchen Allerleirauh flieht eine Königstochter vor ihrem Vater, der sie nach dem Tod der Mutter heiraten will. Sie kleidet sich in einen schäbigen Flickenmantel und arbeitet als Küchenmagd am eigenen Hof, um im verstörenden Happy End schließlich doch den Vater zu heiraten. Im französischen Märchen Die Manekine schlägt sich eine Prinzessin selbst eine Hand ab, um den Heiratswunsch ihres Vaters abzuwehren. Schneewittchens Widersacherin ist die Stiefmutter, die um ihren Rang als erste Frau am Hofe fürchtet und auch vor Mord nicht zurückschreckt.