Des Kaisers neue Kleider

Des Kaisers neue Kleider ist ein Kunstmärchen von Hans Christian Andersen, veröffentlicht 1837. Die schwankartige Erzählung gehört zu den bekanntesten Märchen des Dänen und wird als politisches Gleichnis für die nicht rational zu begründende Autorität der Herrschenden immer wieder zitiert. Dabei wird gern auf das unschuldige Kind verwiesen, das als einziges den naiven Mut hat, das Offensichtliche auszusprechen. Interessant ist, dass es eine Vorlage gibt, der Andersen insgesamt dicht gefolgt ist. Doch gerade die Schlusspointe mit dem unschuldigen Kind gibt der Geschichte einen entscheidenden Dreh und entschärft die Sozialkritik erheblich. Die Vorlage stammt aus der spanischen Erzählsammlung El Conde Lucanor von Don Juan Manuel (14. Jahrhundert). Dort ist es ein schwarzer Stallknecht, der die Wahrheit ausspricht, also ein Mann, der in der sozialen Hierarchie ganz unten steht und deshalb im Gegensatz zu den Mitgliedern des Hofstaats keinen Abstieg fürchten muss. Außerdem wird die Autorität nicht aus der Eignung für ein Amt abgeleitet, sondern schlichtweg aus der (legitimen) Geburt. Die Geschichte spielt am Hof eines maurischen Königs und dürfte wohl orientalischen Ursprungs sein.

Illustration von Harry Clarke zu dem Märchen Des Kaisers neue Kleider
Des Kaisers neue Kleider. Illustration Harry Clarke (Fairy Tales by Hans Christian Andersen, Brentano’s, New York, 1916)

Inhalt

Vor vielen Jahren lebte ein Kaiser, der so ungeheuer viel auf hübsche, neue Kleider hielt, daß er all sein Geld dafür ausgab, um recht geputzt zu sein.

Viele Fremde kommen in seine Stadt, und eines Tages kommen auch zwei Betrüger, die vorgeben, die schönsten Stoffe weben zu können. Das ungewöhnlichste an diesen Stoffen seien nicht die herrlichen Muster und Farben, sondern die wunderbare Eigenschaft, dass sie für Menschen unsichtbar sind, die für ihr Amt nicht taugen oder unverzeihlich dumm sind. Die Aussicht, in seinem Reich die Dummen von den Klugen unterscheiden zu können, reizt den Kaiser natürlich, sodass er den Gaunern einen ordentlichen Vorschuss gibt.

Die beiden stellen ihre Webstühle auf und beginnen mit der Arbeit. Zu gern möchte sich der Kaiser von den Fortschritten überzeugen, aber ein etwas flaues Gefühl hat er doch. Deshalb schickt er zuerst seinen alten, ehrlichen Minister. Der kann kaum glauben, was er sieht — nämlich nichts. Das kann er natürlich nicht sagen, also lobt er die herrlichen Muster und Farben. Der Kaiser schickt noch einen zweiten vertrauenswürdigen Beamten, dem es genauso ergeht. Schließlich nimmt er die wunderbaren Stoffe selbst in Augenschein … aber oh weh:

‚Was!‘ dachte der Kaiser. ‚Ich sehe gar nichts! Das ist ja schrecklich. Bin ich dumm? Tauge ich nicht dazu, Kaiser zu sein? Das wäre das Schrecklichste, was mir begegnen könnte!‘ — »Oh, es ist sehr hübsch!« sagte er.

Und die gesamte Gefolgschaft stimmt in die Lobeshymnen auf die Stoffe ein: »herrlich, wundervoll, exzellent!« Eine bevorstehende Prozession ist die Gelegenheit, bei der der Kaiser seine wunderbaren neuen Gewänder das erste Mal öffentlich tragen kann. Kammerherren tragen die unsichtbaren Schleppen, und auch das Volk an den Fenstern und auf den Straßen ruft »Oh« und »Ah«. Bis ein kleines Kind sagt:

»Aber er hat ja nichts an!«

Die Stimme der Unschuld pflanzt sich fort, bis schließlich das ganze Volk ruft: Aber er hat ja nichts an! Der Kaiser allerdings trägt seine unsichtbaren Kleider mit Stolz und Würde — wenigstens für diese Prozession.

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