Legenden von Rübezahl (IV)

In diesem Artikel geht es um die Vierte Legende von Rübezahl aus der Sammlung von Johann Karl August Musäus, die neben den fünf Geschichten von Rübezahl weitere Märchen enthält (»Volksmärchen der Deutschen«, 1783). In der dritten Legende hatte sich Rübezahl gegenüber einem verarmten Bauern sehr großzügig gezeigt, was sich in der Gegend rumgesprochen hat. Viele Schatzgräber durchkämmen das Gebirge in der Hoffnung, die Höhle des Rübezahl mit ihren sagenhaften Reichtümern zu finden. Nach einer Weile wird dem Berggeist das Treiben zu bunt. Er zeigt sich nun wieder von seiner grimmigen Seite und zieht sich schließlich für lange Zeit vor den Menschen zurück — bis eines Tages eine Frau mit ihren vier kleinen Kindern im Wald auftaucht.

Allgemeines zur Sagengestalt Rübezahl finden Sie hier.

Vierte Legende von Rübezahl, Illustration Ludwig Richter
Vierte Legende von Rübezahl, Illustration Ludwig Richter (Volksmährchen der Deutschen, Verlag Julius Klee, Leipzig, 1842)

Vierte Legende: Frau Ilse und ihr Mann Steffen

Frau Ilse ist mit ihren Kindern in den Wald gegangen, um Laub als Futter für ihre Ziegen zu sammeln. An der Brust liegt ihr jüngstes Kind, das nächstältere trägt sie auf dem Rücken, eines sitzt im Korb und das älteste geht an ihrer Hand. Rübezahl, der sie aus seinem Versteck heraus beobachtet, fühlt sich in eine gutmütige Stimmung versetzt, die er seit längerem gegenüber den Menschen nicht mehr verspürt hat. Er staunt, mit welcher Engelsgeduld die Frau auf die Wünsche ihrer Kinder eingeht, mit ihnen singt, ihnen Beeren pflückt, Mücken verjagt, sie in den Schlaf wiegt und dabei doch Zeit für ihr Tagwerk findet, nämlich das Laub für die Ziegen zu sammeln. Schließlich aber fängt der kleine Junge, der zuvor auf Mutters Rücken saß, ein fürchterliches Geschrei an. Daraufhin lässt sich Frau Ilse zu unüberlegten Worten hinreißen: »Rübezahl«, ruft sie, »komm und friss mir den Schreihals«.

Prompt erscheint der Gnom, womit die gute Frau natürlich nicht gerechnet hat. Wie eine Glucke verteidigt sie ihre Kinder, besonders aber den kleinen Schreihals. Rübezahl gefällt die tapfere Frau immer besser, und auch der Schreihals scheint ihm ein handfester Bursche zu sein, aus dem sich etwas machen lässt. Er bietet ihr Geld, damit er ihr den Jungen überlässt, doch sie will davon nichts wissen. Sie reden ein bisschen, und dabei kommt die Sprache auch auf Ilses Mann, Steffen, der zwar tüchtig ist, aber leider allzu oft Schläge an seine Frau austeilt. Er sei aber doch kein gar so schlechter Mann, meint Frau Ilse, und schließlich habe sie, da sie keine große Mitgift hatte, auch keine Wahl gehabt. Schließlich hilft Rübezahl der schwer mit Korb und Kindern beladenen Frau auf die Beine, die sich auf den Nachhauseweg macht.

Verwundert stellt die Frau fest, dass ihr der Korb diesmal ganz ungewohnt schwer wird. Sie kippt die Hälfte ihrer Ladung aus und hat trotzdem noch schwer genug zu schleppen. Zu Hause gibt sie den Kindern ihr Abendbrot, den Ziegen das Laub, und geht schlafen. Ihr Mann Steffen ist Glashändler und unterwegs in Böhmen, um Ware einzukaufen. Als sie früh am nächsten Morgen aufsteht, führt ihr erster Weg in den Stall zu den Ziegen. Entsetzt findet sie die Ziegenmutter tot und steif, während die Zicklein mit verdrehten Augen und verrenkten Gliedern gerade ihr Leben aushauchen.

Die gute Frau ist gleich dreifach gestraft. Es tut ihr Leid um die armen Ziegen, um die Ziegenmilch, die den Kindern fehlen wird, und ihr ist bange bei dem Gedanken an ihren Mann, der bald nach Hause kommen wird. Sicher wird sie das Unglück mit einer Tracht Prügel bezahlen. Doch bald fasst sie wieder neuen Mut und macht sich an die Arbeit. Da sieht sie vor sich ein Blatt aus purem Gold. Sie tauscht es gegen zwei Taler und kauft für ihre Familie zu Essen ein. Dann geht sie zurück in den Stall, um die verendeten Ziegen beiseite zu schaffen. Ihr Blick fällt auf den Futtertrog, und sie kann kaum glauben, was sie dort sieht: lauter goldene Blätter! Sofort dämmert ihr, was den Ziegen den Magen verdorben hat. Also schneidet sie den Kreaturen die Bäuche auf und findet in jedem einen Klumpen Gold.

Nun könnte alle Not ein Ende haben, wäre da nicht Steffen. Frau Ilse fürchtet, nicht ganz Unrecht, dass er den Schatz an sich nehmen würde und sie mit den Kindern nicht besser dastehen würde als jetzt. Sie vertraut sich dem Pfaffen an, dem die Ehegebräuche im Dorf nicht unbekannt sind und der sich gewöhnlich auf die Seite der tüchtigen, duldsamen Frauen schlägt. Und tatsächlich weiß der Pfaffe Rat. Er setzt einen amtlichen Brief auf, der Frau Ilse zur Erbin ihres angeblich in Venedig zu Wohlstand gekommenen und plötzlich verstorbenen Bruders erklärt. Gleichzeitig legt das angebliche Testament fest, dass der Pfaffe die Vormundschaft haben solle.

Unterdessen ergeht es Steffen auf seiner Handelsreise schlecht. Als er, mit Glaswaren schwer beladen, das Riesengebirge durchwandert, sorgt Rübezahl dafür, dass die gesamte Ware zerbricht. Steffen weiß: damit ist er ruiniert, denn sein gesamtes Geld hatte er in die neue Ware investiert. Er kommt auf den dummen Einfall, sich neues Startkapital zu verschaffen, indem er seine eigenen Ziegen stiehlt und sie verkauft. Die Schuld für den Verlust würde er dann der Frau in die Schuhe schieben. Doch im Stall muss er feststellen, dass ihm anscheinend jemand zuvor gekommen ist — jedenfalls sind die Ziegen nicht da! Nun packt ihn endgültig die die Verzweiflung: Ware kaputt, Ziegen weg … Er verkriecht sich eine Weile lang im Stall, während die Frau sich wegen seines Ausbleibens langsam Sorgen macht.

Schließlich kommt er kleinlaut angekrochen. Anstatt zu weinen und zu schimpfen, empfängt ihn seine Frau frohen Mutes. Sie hätten schließlich vier Kinder und vier Arme, um sie zu ernähren. Dann kommt der Pfaffe hinzu und hält dem Steffen zuerst eine Predigt, wonach der Geiz die Wurzel allen Übels sei. Und dann verkündet er die unglaubliche Erbschaft von Frau Ilse. Von dieser Stunde an ist Steffen der gefälligste Ehemann und liebevollste Vater.

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