Legenden von Rübezahl (V)

In diesem Artikel geht es um die Fünfte Legende von Rübezahl aus der Sammlung von Johann Karl August Musäus, die neben den Geschichten von Rübezahl weitere Märchen enthält (»Volksmärchen der Deutschen«, 1783). Rübezahl war schon sehr lange keinem Menschen mehr erschienen und die Legenden um ihn waren zu Ammenmärchen geworden, die nur noch schwache Gemüter beeindrucken. Zu diesen gehört die Gräfin Cäcilie nicht; sie ist eine aufgeklärte Dame, die selbst dann noch die Contenance behält, als ihr bei nächtlicher Kutschfahrt durch den Wald ein Mann ohne Kopf begegnet.

Allgemeines zur Sagengestalt Rübezahl finden Sie hier.

Fünfte Legende von Rübezahl, Illustration Ludwig Richter
Fünfte Legende von Rübezahl, Illustration Ludwig Richter (Volksmährchen der Deutschen, Verlag Julius Klee, Leipzig, 1842)

Fünfte Legende: Ein Trittbrettfahrer bekommt es mit Rübezahl zu tun

Die Gräfin Cäcilie aus Breslau ist in mit ihren schönen Töchtern unterwegs nach Karlsbad, um dort zu kuren. Des Nachts durchqueren sie mit ihrer Kutsche das Riesengebirge. Während sie im Inneren der Kutsche gemütlich schlummern, wird dem Diener, der zusammen mit dem Postkutscher auf dem Kutschbock sitzt, immer unheimlicher zumute. Einen Steinwurf von ihnen entfernt und immer auf gleichbleibenden Abstand achtend wandelt eine rabenschwarze Gestalt von übermenschlicher Größe. Was das Bedenklichste ist: der Gestalt fehlt der Kopf.

Der Diener flüchtet sich schließlich ins Innere der Kutsche, wo er von der Gräfin wegen seiner abergläubischen Ängstlichkeit ausgeschimpft wird. Doch ihre Tirade bleibt ihr im Halse stecken, als sie drei Schritte vom Fenster entfernt das Gespenst mit eigenen Augen erblickt. Zwar hat der Schwarze, anders als vom Diener beschrieben, sehr wohl einen Kopf, doch trägt er diesen unterm Arm. Den Insassen bleibt keine Zeit, sich vom Schreck zu erholen. Denn in der nächsten Sekunde wird der Diener durch einen gezielten Wurf mit dem Kopf aus der Kutsche befördert. Dann streckt der Schwarze mit einem Keulenhieb den Kutscher vom Bock (»Nimm das von Rübezahl, dem Bannwart des Gebirges!«) und übernimmt selbst die Zügel.

In schneller Fahrt geht es über Stock und Stein. Plötzlich taucht neben der Kutsche ein Reiter auf, der sich nicht von der Kopflosigkeit des Wagenlenkers beeindrucken lässt. Im Gegenteil, nun ist es der schwarzgekleidete Unhold selbst, dem Angst und Bange wird. Die Hartnäckigkeit, mit der der Reiter jedem Versuch widersteht, ihn abzuschütteln, ist gar zu unheimlich. Zumal dessen Pferd nur drei Beine hat, aber trotzdem perfekt traversiert. Der Unhold beginnt zu ahnen, mit wem er es zu tun hat: mit Rübezahl selbst!

Der Berggeist ist erbost über die Frechheit, mit der dieser Wicht sein Angedenken benutzt, um Reisende zu erschrecken und auszurauben. Auch ihm bleibt keine Zeit, lange über seine Ahnung nachzugrübeln. Grob wird er vom Kutschbock gezerrt und zu Boden geschmettert, wobei seine Maskerade von selbst von ihm abfällt. Das Gespenst ist also aus Fleisch und Blut, und auch ein Kopf ist vorhanden. Anstatt der Gräfin und ihren Töchtern ihr Geschmeide abzunehmen, bettelt der Wicht nun um sein Leben. Eigentlich hat Rübezahl wenig Lust, ihm diesen Wunsch zu erfüllen. Doch die Andeutungen über das abenteuerliche Schicksal, das angeblich aus einem braven Mann einen Räuber gemacht hat, wecken seine Neugier.

Zunächst aber muss sich der Berggeist um die verschreckten Damen kümmern, selbstverständlich in Gestalt eines Kavaliers. Er weckt sie mit frischem Quellwasser und Riechessenzen aus ihrer Ohnmacht. Dann stellt er sich als der Oberste von Riesental vor und lädt sie ein, die Nacht auf seinem Anwesen zu verbringen. Der gescheiterte Räuber muss die Kutsche lenken und dabei beobachten, wie der »Herr von Riesental« von Zeit zu Zeit eine Fledermaus herbeiwinkt und ihr Anweisungen gibt. Bald ist das Anwesen des Retters erreicht, wo, wie die Gräfin erstaunt feststellt, gerade ein rauschendes Fest gefeiert wird.

Die Damen bedauern, hier in ihren Reisekleidern zu erscheinen, trösten sich aber damit, dass ihnen wegen des überstandenen Abenteuers große Aufmerksamkeit zuteil wird. Der Herr von Riesental gibt sich in Bezug auf ihre Gesundheit sehr besorgt und besteht darauf, dass ein auf der Gesellschaft zufällig anwesender Arzt sie untersucht. Der verordnet der Gräfin, ihren Töchtern sowie auch der Zofe jeweils einen Aderlass. Danach gesellen sie sich zur Festgesellschaft, wo die Gräfin — vergeblich — versucht, Näheres über den Herrn von Riesental in Erfahrung zu bringen. Das Gesprächsthema des Abends sind, nach dem Abenteuer der Gräfin wenig erstaunlich, die Legenden von Rübezahl.

Die Gräfin setzt sich an die Spitze derer, die alles als dummen Aberglauben abtun. Ihr Argument ist ziemlich überzeugend. Würde Rübezahl tatsächlich in diesem Gebirge hausen, hätte er sicher den Frevler bestraft, der auf seine Rechnung reisende Damen überfällt. Diesem Argument weiß keiner der Gäste noch etwas entgegenzusetzen. Doch der Gastgeber, der bis dahin zu allem Für und Wider geschwiegen hatte, bringt die Gräfin in Verlegenheit. Wäre es nicht denkbar, dass Rübezahl selbst bei der Rettung seine Hand im Spiel hatte und sie anschließend hier auf diese Abendgesellschaft geführt hat? Zu ihrem Glück werden in diesem Moment die beiden Vermissten, der Diener und der Postkutscher, hereingeführt, sodass ihr die Antwort, die ihr schwergefallen wäre, erspart bleibt. Triumphierend hält der Diener den Kopf des Räubers in der Hand, einen ausgehöhlten Kürbis mit einer Nase aus Holz und einem angeklebten Bart aus Flachs.

Am nächsten Morgen setzen die Damen ihre Reise nach Karlsbad fort, nicht ohne das Versprechen an den Hausherrn und Retter, auf der Rückreise noch einmal vorbeizuschauen. Rübezahl kann es kaum erwarten, sich die Geschichten anzuhören, die der gefangene Strolch zu erzählen hat. Der war, so seine Erzählung, einst ein ehrbarer Handwerker und Beutelmacher von Beruf. Doch Krieg und Teuerung sorgten dafür, dass ihm seine Ehrlichkeit eher schadete als nützte. Trotz gleichbleibend guter Arbeit konnte er mit seinen Beuteln bald nicht mehr das Nötigste zum Leben verdienen. Er kam in den Schuldturm, wurde aus der Innung verstoßen und schließlich sogar des Landes verwiesen. So geriet er an einen Falschmünzer, der ihn in seine Dienste nahm. Das ging eine Weile lang gut, doch schließlich kam man ihnen auf die Schliche und sie wurden zu lebenslanger Festungshaft verurteilt.

Doch anstatt den Rest seines Lebens büßend zu verbringen, nutzte der ehemalige Beutelmacher die Chance, seiner Karriere eine neue Wendung zu geben und ließ sich fürs Freikorps anwerben. Das Leben als Soldat ließ sich gut an und dank seiner Unerschrockenheit stieg er bald auf. Nun gehörte es zu seinen Aufgaben, für »Fourage« (Futter für die Pferde und Verpflegung der Truppen) zu sorgen. Sein Eifer wurde ihm zum Verhängnis, da er nicht zwischen Feindes- und Freundesland unterschied, weshalb ihm das Fouragieren als Plünderung ausgelegt wurde. Ein weiteres Mal wurde er unehrenhaft und schmerzhaft, nämlich durch »Ausstäuben«, aus seinem Berufsstand vertrieben.

Er überlegte, sein altes Handwerk wieder aufzunehmen, doch dazu brauchte er etwas Startkapitel. Und so wurde aus dem Beutelmacher ein Beutelschneider — einer, der auf Jahrmärkten und bei anderen Menschenansammlungen den Reichen ihre gut gefüllten Beutel vom Gürtel schneidet. Über kurz oder lang landete er wieder im Gefängnis. Zwar gelang es ihm zu fliehen, doch seine beruflichen Aussichten waren denkbar schlecht. Nach dem Motto »Not kennt kein Gebot« verfiel er auf die Idee, als Rübezahl verkleidet wohlhabende Reisende auszurauben. So kam es schließlich zu der Begegnung mit dem echten Rübezahl. Der überantwortet ihn mit einem Fußtritt seinem Schicksal, und dieses führt in nach einigem Herumirren und ohne dass er selbst weiß, wie es sich genau zugetragen hat, wieder in das Gefängnis, aus dem er zuletzt geflohen war.

Die Gräfin erlebt beim Kuren in Karlsbad einige peinliche Momente, die sie sich rational überhaupt nicht erklären kann. Unter den Kurgästen trifft sie all die Bekannten, die auf der Abendgesellschaft bei ihrem Retter, dem Obersten von Riesenstein, waren. Doch alle verhalten sich ihr gegenüber kühl, als hätten sie sie noch nie im Leben gesehen. Ihr Kurarzt ist eben jener Herr, der sie in jener Nacht zur Ader gelassen hat. Doch erstaunlicherweise behauptet er, der Dame noch nie im Leben begegnet zu sein. Und von einem Herrn von Riesenstein hätte er ebenfalls noch nie gehört. Bald spricht sich herum, dass die Gräfin an merkwürdigen Phantasien leidet, und man hält sie für nicht ganz richtig im Kopf. Als sie auf der Heimreise noch einmal bei Herrn von Riesenstein vorbeischauen möchte, findet sie niemanden, der ihr den Weg zeigen könnte. Ein Herr von Riesenstein ist in der fraglichen Gegend niemandem bekannt.

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