Legenden von Rübezahl (I)

Die erste Sammlung von Sagen um Rübezahl, den Berggeist des Riesengebirges, wurde zwischen 1662 und 1672 von Johann Praetorius herausgegeben. Sie umfasst weit über zweihundert kürzere Geschichten. Die »Legenden von Rübezahl« sind enthalten in den »Volksmärchen der Deutschen« von Johann Karl August Musäus (1783). Dabei handelt es sich um fünf längere Geschichten mit den Titeln Erste Legende, Zweite Legende usw.

Rübezahl bringt Emma einen Korb Rüben. Illustration von Henry Justice Ford
Rübezahl, Illustration H.J. Ford (The Brown Fairy Book, ed. Andrew Lang, 1904)

Dieser Artikel behandelt die erste Legende, in der Rübezahl die Königstochter Emma raubt, von dieser ausgetrickst wird und dabei seinen Spottnamen (Rübezahl = „der die Rüben zählt“) erhält. In der ersten Legende gibt Musäus auch eine Beschreibung des Berggeistes, die ihn als recht komplexes Wesen charakterisiert:

Denn Freund Rübezahl, sollt ihr wissen, ist geartet wie ein Kraftgenie, launisch, ungestüm, sonderbar; bengelhaft, roh, unbescheiden; stolz, eitel, wankelmütig; heute der wärmste Freund, morgen fremd und kalt; zuzeiten gutmütig, edel und empfindsam; aber mit sich selbst in stetem Widerspruch; albern und weise, oft weich und hart in zween Augenblicken…

Musäus nennt Rübezahl den Fürst der Gnomen. Auch wenn der Berggeist meist als ein Wesen von riesenhaftem Wuchs dargestellt wird, entspricht er als Bewacher des Bergschatzes eher dem Types des Zwerges als dem des Riesen.

Erste Legende: Wie Rübezahl zu seinem Namen kam

In der ersten Legende verliebt sich Rübezahl in die liebreizende Königstochter Emma, als er diese beim Bad in der Nähe eines Wasserfalls beobachtet. Er entführt sie in sein unterirdisches Reich, wo er sie mit Aufmerksamkeiten überschüttet, um ihre Liebe zu gewinnen. Was Emma am meisten vermisst, sind ihre Gespielinnen, die zuvor hatten ansehen müssen, wie Emma von dem Berggeist in die Tiefe gezogen wurde. Um Emma aufzuheitern und sie gewogen zu machen, holt Rübezahl ein paar Rüben vom Feld und legt sie in einem hübschen Korb. Dann erklärt er der Angebeteten, dass sie die Rüben nur mit einem Zauberstab berühren muss, um aus jeder Rübe in eine Gestalt hervorzuzaubern, die Emma gern bei sich haben möchte. Also zaubert sich Emma ihre Gefährtinnen herbei. Zusammen schwelgen sie im Überfluss, welchen die Zauberkräfte des Berggeistes hervorzubringen im Stande sind.

Rübezahl merkt, dass Emma in der imaginierten Gesellschaft (denn eigentlich sind die Gefährtinnen nur deren Geister) glücklicher und auch ihm gegenüber freundlicher wird, und überlässt ihr deshalb nach und nach seinen ganzen Rübenvorrat, sodass sie ihren gesamten Hofstaat herbeischaffen kann. Doch nach einiger Zeit bemerkt Emma, dass ihre Gefährtinnen und Diener immer schlaffer und lebloser werden; sie allein ist frisch und rosig. Als sie eines Morgens nur noch zittrige, alte Matronen vorfindet, stellt sie den Berggeist wütend zur Rede. Dabei wirft sie ihm vor, dass er ihr die einzige Freude und Zerstreuung nicht gönnt. Doch Rübezahl ist gegen die Kräfte der Natur machtlos, welche für das Dahinschwinden von Emmas Geister-Hofstaat verantwortlich sind. Denn »lebendig« sind die Geister nur, solange noch Saft in den Rüben ist, aus denen sie hervorgezaubert wurden. Inzwischen aber sind alle Rüben welk und verschrumpelt.

Rübezahl verspricht der zürnenden Emma, neue Rüben vom Feld zu holen, denn dann kann das schöne Spiel wieder von vorne beginnen. Doch Rübezahl, der sich als Berggeist mit irdischen Dingen nicht besonders gut auskennt, muss erkennen, dass inzwischen Winter geworden ist und keine Rüben mehr zu holen sind. Er bestellt nun selber einen Acker mit Rüben, doch einige Monate muss sich Emma gedulden, bevor die ersten neuen Rüben geerntet werden können.

Während dieser Zeit der Einkehr, in der sie durch keinerlei Vergnügungen abgelenkt ist, besinnt sich Emma darauf, dass ihr Herz dem Fürsten Ratibor gehört und sie sich einander schon versprochen hatten, bevor der Berggeist sie entführt hatte. Und sie ersinnt einen Plan, wie sie aus seinem Reich entkommen kann. Als ihr Rübezahl im Frühling die ersten kleinen Rübchen von seinem Feld bringt, zaubert sie sich aus diesen kleine Boten: eine Biene, eine Grille und eine Elster. Die beiden ersten fallen einer Schwalbe bzw. einem Storch zum Opfer. Doch die Elster erreicht ihr Ziel und bestellt Ratibor Grüße von Emma. Der Fürst macht sich auf ins Riesengebirge.

Währenddessen täuscht Emma dem Berggeist einen Sinneswandel vor und gibt ihre Zustimmung zur Hochzeit. Doch sie fordert einen letzten Beweis für seine Liebe, da sie als Sterbliche altern wird, während jener die Gabe der ewigen Jugend besitzt. Was sie von ihm verlangt, ist, dass er ihr die genaue Zahl der Rüben auf seinem Feld nennt. Also macht er sich auf, um die Rüben zu zählen — daher sein Name. Um sicher zu sein, zählt er noch einmal nach, wobei sich natürlich eine Differenz gibt. Also beginnt er wieder von vorn usw. usw. …

Während Rübezahl zählt und flucht, zaubert sich Emma aus einer saftigen Rübe ein geflügeltes Pferd und flieht dem herannahenden Ratibor in die Arme. Irgendwann wird Rübezahl doch mit dem Zählen fertig, nur um festzustellen, dass Emma ihn reingelegt hat und entschwunden ist. Er entdeckt sie am Himmel auf ihrem Pegasus und kann ihr nur noch einen wütenden Blitz hinterherschicken. Die Geschichte spricht sich im ganzen Riesengebirge und überall in Schlesien herum. Seitdem trägt der Berggeist, für den die Menschen früher keinen Namen hatten, den Spottnamen Rübezahl. Wer ihn trifft und ihn bei diesem Namen nennt, muss damit rechnen, dass er wütend wird.

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