Jorinde und Joringel

Jorinde und Joringel ist ein Märchen der Brüder Grimm (Kinder- und Hausmärchen; KHM 69). Die Grimms übernahmen das Märchen aus »Heinrich Stillings Jugend«, dem ersten Teil der Autobiografie von Johann Heinrich Jung. Charakteristisch sind die romantische Symbolik (Pflanzen, Vögel, Bannzauber), und die leichte Melancholie, die für Grimmsche Märchen eher untypisch ist.

Märchentyp AT 405 (Braut wird in einen Vogel verwandelt)

Joringel such Jorinde, die von der Hexe in einen Vogel verwandelt wurde. Illustration von Heinrich Vogeler
Jorinde und Joringel. Illustration Heinrich Vogeler (Kinder- und Hausmärchen, Max Hesses Verlag, Leipzig, 1907)

Inhalt

Jorinde ist ein schönes junges Mädchen und Joringel ein schöner junger Mann. Die beiden sind ein Liebespaar und einander versprochen. Eines Tages gehen sie im Wald spazieren, um ungestört miteinander reden zu können. Sie wissen, dass im Wald eine Hexe haust, und zwar in einem Schloss, dessen Nähe sie unbedingt meiden müssen. Denn wer auf hundert Schritt in die Nähe des Schlosses kommt, wird verzaubert und muss stille stehen, bis ihn die Hexe wieder losspricht. Gerät eine Jungfrau in den Bannkreis der Hexe, wird sie in einen Vogel verzaubert und in einen Käfig gesperrt. Im Schloss der Hexe stehen bereits Tausende solcher Vogelkäfige.

Obwohl sie die Gefahr kennen, geraten Jorinde und Joringel in den Bannkreis der Hexe. Dort befällt sie eine traurige Stimmung, die angesichts ihrer bevorstehenden Hochzeit und ihres trauten Zusammenseins völlig unerklärlich scheint. Außerdem wissen sie plötzlich nicht mehr, wie sie nach Hause kommen. Jorinde singt

„mein Vöglein mit dem Ringlein roth
singt Leide, Leide, Leide:
es singt dem Täubelein seinen Tod,
singt Leide, Lei– zucküth, zicküth, zicküth.“

— und ist in eine Nachtigall verwandelt. Joringel kann sich nicht mehr bewegen, nicht sprechen und nicht einmal mehr weinen. Später kommt die Hexe und erlöst den versteinerten Joringel, aber Jorinde, die Nachtigall, fängt sie ein und steckt sie in einen Käfig. Joringel ist todunglücklich über den Verlust seiner geliebten Braut. In einem fremden Dorf hütet er Schafe, und oft geht er in die Nähe des Schlosses. Eines Nachts träumt er, dass er eine purpurrote Blume mit einer Perle in der Mitte findet, mit der ins Schloss der Hexe geht und alles vom Zauber erlöst, was er mit dieser Blume berührt.

Darauf hin macht er sich auf die Suche (»Suchwanderung«) nach dieser Blume und findet sie am neunten Tag (die Perle ist ein Tautropfen). Als er damit zum Schloss kommt, stellt er als erstes fest, dass er die Bannzone ungehindert durchdringen kann, auch alles andere ist wie in seinem Traum. Die Hexe ist gegen ihn machtlos, aber auch Joringel hat ein Problem: Welcher der vielen tausend Vögel mag seine Jorinde sein? Als die Hexe aber heimlich mit einem Käfig verschwinden will, verrät sie sich. Joringel berührt die Nachtigall mit der Blume, die sich darauf hin in Jorinde verwandelt. Beide erlösen mithilfe der Blume auch all die anderen jungen Mädchen.

Interpretation

»Jorinde und Joringel« ist in mancherlei Hinsicht ein seltsames Märchen, was sich schon in den Namen des Mädchens und des Jungen andeutet. Die Liebe der beiden wird durch keine neidische Stiefmutter oder -schwester bedroht, sondern durch eine Hexe, die als abstrakte, mystische Gegenspielerin der Liebe selbst erscheint. (Manche Interpretationen sehen freilich in der Hexe eine sexuell unerfüllte, ältere Frau, die grundsätzlich auf schöne, junge Frauen neidisch ist.) Ohne Beispiel ist auch die Herausgehobenheit des Paares aus jedem sozialen Umfeld — Eltern oder Geschwister kommen nicht vor, wie auch sonst kein weiterer Mensch.

Und tatsächlich braucht die Geschichte auch keine weiteren Menschen. Hier geht es nicht um gesellschaftliche Zwänge oder Normen, nicht um Not, die durch ungünstige äußere Umstände entsteht. Es geht um die tabuisierte Sexualität selbst, um die Angst davor und um das letztendliche Besiegen dieser Angst. Die Schlüsselszene im Wald zeigt dies deutlich: die Umstände — das Paar kurz vor der Hochzeit allein im Wald, lieblichster Sonnenschein und zwitschernde Vögel — legen eigentlich nahe, dass es zu einer intimen Begegnung kommt.

Doch Jorinde hat Angst und »flüchtet« in das unschuldige Dasein eines eingesperrten Vögelchens. Joringel kann sie nicht berühren, sich nicht einmal regen. Später sucht er die Nähe Jorindes, doch sie begegnen sich nicht als Mann und Frau. Die rote Blume, mit der der Bann schließlich gebrochen wird, darf wohl als sexuelles Symbol gesehen werden. Kein Zauberer und keine gute Fee helfen Joringel. Es ist Joringel selbst, der sich schließlich ermannt und seine Jorinde durch Berührung mit der Blume erlöst.

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