Das tapfere Schneiderlein

Das tapfere Schneiderlein ist ein Schwankmärchen der Brüder Grimm (Kinder- und Hausmärchen, KHM 20). In der Erstausgabe (1812) wurden unter dem Titel Von einem tapfern Schneiderlein zwei verschiedene Versionen angegeben, die in der zweiten Auflage zusammengefügt wurden. In Einzelheiten und Formulierungen wurde die Fassung der zweiten Auflage später noch mehrfach verändert, doch gilt die folgende Inhaltsangabe im Wesentlichen für alle Fassungen ab der zweiten Auflage.

Illustration von Carl Offterdinger zu dem Märchen Das tapfere Schneiderlein
Das tapfere Schneiderlein. Illustration Carl Offterdinger (Mein erstes Märchenbuch, Verlag Wilhelm Effenberger, Stuttgart, Ende 19. Jhd.)

Version I der Erstausgabe stammt aus einer alten Schwanksammlung, dem Wegkürtzer (1557) von Martin Montanus. Die Brüder Grimm übernahmen diesen Text mit nur wenigen Modernisierungen, was die altertümliche und zumal für Kinder wenig verständliche Sprache dieser Version erklärt. Der Text von Montanus bildete auch die Grundlage für Ludwig Bechsteins Fassung des Märchens (siehe Anmerkungen unten).

Inhalt

Vorspiel

Ein Schneider bestreicht seinen Brotkanten mit Mus, will aber schnell noch das Wams fertig nähen, an dem er gerade arbeitet. Währenddessen lassen sich sieben Fliegen auf dem Mus nieder, was dem Schneider natürlich missfällt. Er bindet seinen Gürtel ab und erschlägt damit die ungebetenen Gäste. Stolz stickt er auf seinen Gürtel »sieben auf einen Streich« und beschließt, die ganze Welt solle von seiner Tapferkeit erfahren. Mit seinem Gürtel um den Leib verlässt er die Stadt und nimmt als Wegzehrung einen alten Käse mit. Vor den Toren der Stadt findet er in einer Hecke ein Vögelchen, das sich dort verfangen hat und das er ebenfalls in seine Tasche steckt.

Das tapfere Schneiderlein und die Riesen

Der wandernde Schneider trifft einen Riesen, der von dem Spruch auf seinem Gürtel einigermaßen beeindruckt ist. Denn der Riese meint, das schwächlich wirkende Bürschlein habe sieben Menschen erschlagen. Zur Demonstration seiner eigenen Kraft nimmt er einen Stein und presst ihn in der Faust, bis das Wasser heraustropft. Das kann das tapfere Schneiderlein erst recht: Er nimmt den weichen Käse und quetscht mühelos den Saft heraus. Dann wirft der Riese einen Stein so hoch, dass man ihn kaum noch sehen kann, bis er schließlich doch wieder auf die Erde herab fällt. Das kann der Schneider besser: Er nimmt den Vogel und wirft ihn die Luft, wo er sich sich auf und davon macht. Schließlich fordert der dumme Riese den Schneider auf, mit ihm einen Baum zu tragen, wobei er sich ein drittes Mal vom Schneider austricksen lässt.

Das tapfere Schneiderlein übernachtet in der Höhle des Riesen und seiner Kumpane. In der Nacht versuchen die Riesen, dem Schneider den Garaus zu machen, indem sie mit einer Eisenstange auf das Bett schlagen, in dem der Schneider schläft. Doch der hat sich in einer Ecke des für ihn viel zu großen Betts zusammengerollt. Als die Riesen den Schneider am nächsten Tag quicklebendig erblicken, bekommen sie es mit der Angst zu tun und laufen weg

Das tapfere Schneiderlein am Hof des Königs

Das tapfere Schneiderlein wandert weiter zum Hof des Königs, wo sein Gürtel das gleiche Missverständnis auslöst wie bei den Riesen. Der König meint, der wackere Bursche könne wohl nützlich sein im Kampf gegen die Riesen, die sein Land verwüsten. Er verspricht ihm die Hand seiner einzigen Tochter und dazu das halbe Königreich, wenn er die Riesen tötet. Dieser Lohn gefällt dem Schneider nicht schlecht. Er löst die Aufgabe wiederum durch eine List. Er klettert auf einen Baum, unter dem die beiden fürchterlichen Riesen schlafen, und bewirft sie von oben mit Tannenzapfen. Einer den anderen bezichtigend, er habe angefangen mit Zapfen zu werfen, erschlagen sich die dummen Riesen gegenseitig.

Doch der König hält sich nicht an sein Versprechen, sondern stellt dem Schneider eine neue, noch schwierigere Aufgabe, nämlich das Einhorn zu fangen. Auch das gelingt dem gewitzten Schneider, woraufhin der König ihm eine dritte Aufgabe stellt. Denn obwohl der König nicht weiß, dass der vermeintliche Kriegsheld in Wirklichkeit ein Schneider ist, scheint der Dahergelaufene ihm als Schwiegersohn nicht standesgemäß. Also fordert er, der Heiratskandidat solle vor der Hochzeit erst noch ein Wildschwein fangen, das im Wald großen Schaden anrichtet. Nachdem der Schneider auch das erledigt hat, bleibt dem König nichts anderes übrig, als zu seinem Wort zu stehen. „Mit großer Pracht und kleiner Freude“ wird Hochzeit gehalten und der Schneider wird König.

Verrat und endgültiger Triumph

Etwas später hört seine Frau ihn im Schlaf reden. Aus seinen Worten zieht sie den Schluss, dass ihr Ehemann ein ehemaliger Schneider ist. Gemeinsam mit ihrem Vater fasst sie den Plan, ihn auf ein Schiff zu entführen, das ihn weit weg bringen soll. Doch ein Diener warnt den jungen König.

Der stellt sich schlafend, und als sie ihn holen wollen, tut er so, als würde er im Schlaf reden. Allerdings fügt er diesmal seinem Spruch, der auf sein Vorleben als Schneider schließen ließ, Bemerkungen über seine (angeblichen) Heldentaten an. Der erste Teil seiner Rede wirkt nun so, als würde er einem Schneider Anweisungen geben. Zum Schluss ruft er, er, der so erstaunliche Heldentaten vollbracht habe, müsse keine Angst vor denen haben, die vor seiner Kammer stehen. Diese Rede macht wiederum den vor der Kammer Stehenden Angst, die daraufhin den Plan abbrechen. Der Schneider bleibt König bis an das Ende seiner Tage.

Andere Fassungen und ähnliche Märchen

Das Märchen vom trickreichen Schneider bildet den Auftakt von Ludwig Bechsteins erster Märchensammlung (Deutsches Märchenbuch, 1845). Dort trägt es den Titel Vom tapfern Schneiderlein. Inhaltlich ist die Übereinstimmung mit Version I von Das tapfere Schneiderlein in der Erstauflage der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm groß, da die Grimms und Bechstein wie eingangs erwähnt dieselbe Vorlage (Montanus) benutzten. Jedoch hat Bechstein den Text sprachlich stärker überarbeitet, während die Grimms sehr dicht an der Vorlage blieben.

Der erste Unterschied zur bekannten Grimmschen Fassung ist der, dass die lästigen Fliegen sich nicht auf einem Musbrot, sondern auf einem Apfel niederlassen, den der Schneider, während er arbeitet, neben sich liegen hat. Bechstein änderte (wie in ihren späteren Fassungen auch die Grimms) deren Zahl auf die märchentypischen sieben – bei Montanus und in der ersten Grimmschen Fassung waren es 29!

Zur Rolle der Riesen

Abgesehen von solchen Details ist der größte Unterschied das Fehlen des mittleren Teils, der von den Abenteuern des Schneiders bei den Riesen berichtet. Der Schneider kommt bei Bechstein also direkt nach seinem »Sieg« über die Fliegen an den Hof des Königs, ausstaffiert mit einem Harnisch (nicht einfach mit einem selbstgenähten Gürtel), der von seinen Heldentaten kündet. Durch diese Direktheit wird umso deutlicher, dass es sich bei dem Schneider um einen Hochstapler und Trickster handelt. Im Vergleich dazu rückt das Zwischenspiel bei den Riesen den Schneider in der bekannten Grimmschen Fassung in ein besseres Licht. Denn dort stellt er unter Beweis, dass er es tatsächlich auch mit eindrucksvolleren Gegnern als Fliegen aufnehmen kann.

Das Märchen bekommt durch diese Komponente eine gewisse Nähe zu einem anderen Märchentyp, bei dem es um die Behauptung eines vermeintlich Schwachen gegen (dumme) Riesen geht; siehe zum Beispiel Jack der Riesentöter. Bei Bechstein erschleicht sich der Hochstapler die Gunst des Königs, was Neider auf den Plan ruft. Die Höflinge drohen dem König damit, den Dienst zu quittieren, falls der Neue nicht schleunigst vom Hof entfernt wird. Der König sieht sich in einer Zwickmühle, denn einerseits möchte er nicht auf seine vertrauten Diener verzichten; andererseits fürchtet er, der Held mit den Superkräften könnte sich an ihm rächen, wenn er ihn fortschickt. Daher ersinnt er die Aufgabe mit den Riesen und verspricht dem (Auf-)Schneider seine Tochter zur Frau. Allerdings ist der tödliche Ausgang des Unterfangens das eigentliche Ziel und nicht, wie in der Grimmschen Fassung, etwas, das der König lediglich billigend in Kauf nimmt.

Der Rest ist wiederum ähnlich. Der Schneider löst die Aufgabe durch eine List, doch der König stellt ihm zwei weitere Aufgaben (ein Einhorn und ein Wildschwein fangen). Nachdem der Schneider auch diese Aufgabe mit Bravour gelöst hat, darf er die Königstochter heiraten. Die Schlussepisode ist drastischer ausgearbeitet als bei den Brüdern Grimm: Der ehemalige Schneider, inzwischen König, soll nach seinem verräterischen Gerede im Traum nicht einfach weggebracht, sondern ermordet werden. Es gelingt dem Trickster aber auf die gleiche Weise, den Anschlag zu vereiteln.

Die Figur des Schneiders in anderen Grimmschen Märchen

In den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm tritt die ambivalente Figur des Schneiders noch mehrmals auf. In dem Märchen Vom klugen Schneiderlein ähnelt die Figur vor allem am Anfang eher der des Dummlings. Er ist der jüngste von drei Schneidern, die versuchen, das Rätsel einer Prinzessin zu lösen, die denjenigen heiraten will, dem dies gelingt. Ähnlich wie der König im Märchen vom tapferen Schneiderlein hält sie ihr Versprechen nicht, sondern stellt weitere Aufgaben, in der Hoffnung, den Bewerber doch noch loszuwerden. An die Stelle der Riesen tritt hier ein (ebenfalls dummer) Bär, in dessen Gesellschaft der Schneider eine Nacht verbringen soll.

Auch der Held in dem Märchen Daumerlings Wanderschaft ist ein Schneiderssohn, der auf Arbeit im Allgemeinen und das väterliche Handwerk im Besonderen wenig Lust verspürt und stattdessen, trotzt seiner winzigen Gestalt, auf Abenteuer aus ist.

In Der Riese und der Schneider wird der Schneider als »ein großer Prahler, aber ein schlechter Zahler« eingeführt. Er geht bei einem Riesen in Dienst, weil der ihm gute Bezahlung bietet; insgeheim hofft er, da der Riese nicht der Hellste ist, würde er sich schon bald mit gutem Gewinn davon stehlen können. Doch in diesem Märchen geht die Sache für den Trickster ausnahmsweise nicht gut aus. Der Riese, dem der schmächtige Maulheld nicht ganz geheuer ist, fordert ihn einmal auf, sich auf die Zweige einer Weide zu setzen. Ob er es wohl schaffen könne, sie herunterzubiegen? Der Schneider hält den Atem an, um sich möglichst schwer zu machen. Doch als er wieder Luft holen muss, schnippt er, sehr zu Belustigung des Riesen, hoch in den Himmel und ward nicht mehr gesehen.

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