Ferenand getrü un Ferenand ungetrü

Ferenand getrü un Ferenand ungetrü ist ein Märchen der Brüder Grimm (Kinder- und Hausmärchen, KHM 126). Wie schon der Titel ahnen lässt, ist das Märchen nicht auf Hochdeutsch, sondern im Dialekt erzählt, und zwar auf Paderbörnisch (paderbörnisches Niederdeutsch). Aus nicht offensichtlichen Gründen sind jedoch einige kurze Textpassagen in Hochdeutsch gehalten. Dies verwundert umso mehr, als es sich bei diesen Textpassagen ausschließlich um wörtliche Rede handelt, wofür Dialekt durchaus nahe liegen könnte. Dieselbe Inkonsequenz zeigt sich auch in der Tatsache, dass der Titel in der 7. Auflage (Ausgabe letzter Hand) in Ferenand getrü und Ferenand ungetrü geändert wurde.

Merkwürdig unfertig wirkt das Märchen auch in erzählerischer Hinsicht, worauf die Brüder Grimm in ihren Anmerkungen zum Märchen selbst hinweisen. (»Aus dem Paderbörnischen, doch scheint dies schöne Märchen nicht vollständig,…«) So treten etwa im ersten Drittel der Geschichte mehrere Personen auf, die wichtig erscheinen, dann aber sang- und klanglos verschwinden. Später werden verschiedene symbolträchtige Bilder aufgerufen, ohne dass sie im weiteren Verlauf eine wirkliche Bedeutung hätten. Etwas rätselhaft bleibt auch das Verhältnis zwischen dem Helden, Ferenand getrü, und seinem Begleiter, Ferenand ungetrü. Zumindest ist klar, dass es nicht der Kern des Märchens ist, wie man aus dem Titel leicht schließen könnte. Zentrales Motiv ist vielmehr das Zauberpferd, mit dessen Hilfe der Held die Prinzessin gewinnt.

Illustration von Otto Ubbelohde zu dem Märchen Ferenand Getrü un Ferenand Ungetrü
Ferenand getrü un Ferenand ungetrü. Illustration Otto Ubbelohde (Kinder- und Hausmärchen, Turm-Verlag Leipzig, 1907-09)

Inhalt

Ein früher reiches, kinderloses Ehepaar bekommt einen Sohn, nachdem es verarmt ist. Nun will aber niemand in ihrem Ort die Patenschaft für den Jungen übernehmen. Deshalb macht sich der Vater auf den Weg, um anderswo einen Paten zu finden. Unterwegs trifft er einen anderen Armen, dem er vom Zweck seiner Wanderung erzählt. Der Fremde ist bereit, Pate zu werden. Der Mann solle seine Frau mit dem Kind in die Kirche schicken. Tatsächlich ist der Pate schon in der Kirche, als die Frau dort eintrifft. Das Kind wird auf den Namen Ferenand getrü (Ferdinand getreu) getauft. Als Geschenk gibt der Pate der Mutter einen Schlüssel. Den sollen sie gut aufheben, bis der Sohn vierzehn Jahre alt ist. Dann würde auf der Heide ein Schloss erscheinen, dessen Tor der Junge mit dem Schlüssel aufschließen könne. Was er in dem Schloss finden würde, würde ihm gehören.

Als Ferenand getrü sieben Jahre alt ist, bekommen seine Spielkameraden von ihren Paten Geschenke, mit denen sie prahlen. Traurig klagt er seinem Vater, dass er als einziger nichts bekommen hat. Um ihn aufzumuntern, erzählt ihm der Vater von dem Schlüssel und dem Zauberschloss, das eines Tages für ihn auf der Heide stehen würde. Der Junge will es sofort ausprobieren, doch auf der Heide ist kein Schloss zu sehen. Nach weiteren sieben Jahren aber, als Ferenand vierzehn ist, steht dort plötzlich das versprochene Schloss und sein Schlüssel passt. Drinnen findet er zwar keine Schätze, aber immerhin ein Pferd, einen Schimmel, womit er hochzufrieden ist. Nun will er keinen Tag länger warten, sondern auf seinem Schimmel sofort in die Welt hinaus.

Als er ein Stück geritten ist, sieht er am Boden eine Schreibfeder liegen. Er überlegt kurz, sie aufzuheben, will dann aber doch weiter reiten. Da hört er plötzlich eine Stimme, die ihm eindringlich rät, die Feder mitzunehmen. Also hebt er sie auf. Kurz darauf kommt er an ein Gewässer, an dessen Ufer ein Fisch nach Luft schnappt. Ferenand wirft ihn zurück in sein Element. Der Fisch bedankt sich und schenkt ihm eine Flöte. Wenn Ferenand in Not sei, solle er sie spielen, um ihn, den Fisch, um Hilfe zu rufen.

Ferenand reitet weiter und trifft einen Mann, der ebenfalls mit unbestimmtem Ziel unterwegs ist. Wie sich herausstellt, hat dieser Mann fast genau den gleichen Namen wie er: Er heißt Ferenand ungetrü. Ferenand getrü ahnt nicht, dass der Andere die Gabe besitzt, die heimlichen Wünsche und Gedanken anderer zu lesen. Gemeinsam ziehen sie weiter und kehren im nächsten Ort im Wirtshaus ein. Dort treffen sie ein Mädchen, dem der hübsche Ferenand getrü gefällt. Sie schlägt ihm vor da zu bleiben; der hiesige König würde ihn gewiss als Bediensteter oder Vorreiter einstellen. Der andere Ferenand erfährt dank seiner Gabe vom Vorhaben seines Begleiters und fordert von dem Mädchen, dass sie auch ihm eine Stelle verschafft. Ferenand getrü zieht die Stelle als Vorreiter vor, und Ferenand ungetrü wird Bediensteter beim König.

Seine Nähe zum König ausnutzend, versucht Ferenand ungetrü den Anderen ins Verderben zu stürzen. Beim Ankleiden jammert der König eines Tages, wie sehr er sich nach einer Prinzessin sehnt, die fern und unerreichbar ist. Da Ferenand ungetrü die Gedanken des Königs lesen kann, weiß er, dass der Weg zu der Schönen durch tödliche Gefahren verbaut ist. Wie beiläufig schlägt er vor, der König könne doch den Vorreiter schicken, um die Prinzessin zu holen. Um der Sache Nachdruck zu verleihen, solle man ihm androhen, ihn im Falle des Misserfolgs einen Kopf kürzer zu machen.

Ferenand getrü ist verzweifelt, da er keine Ahnung hat, wie er den Auftrag des Königs erledigen soll. Er geht zu seinem Schimmel und schüttet sein Herz aus. Er staunt nicht schlecht, als dieser ihm antwortet. Das Pferd weiß Rat: Ferenand solle sich vom König ein Schiff mit Fleisch beladen lassen und ein zweites mit Brot. Denn das Wasser, über das er fahren muss, wird von Riesen bewacht, die sich durch Fleisch besänftigen lassen. Und am Ufer warten große, gefährliche Vögel auf ihn, denen er das Brot geben soll.

Die Ratschläge seines Schimmels befolgend erreicht Ferenand getrü unbeschadet das Schloss, in dem die Prinzessin schläft. Die besänftigten Riesen tragen die Schlafende mitsamt ihrem Bett zum Schiff. Ferenand bringt sie zum König, der sie am liebsten auf der Stelle heiraten würde. Doch die Prinzessin meint, sie könne nicht bei ihm bleiben, solange sie nicht ihre Schriften bei sich hätte, die auf ihrem Schloss geblieben sind. Um ihren Wunsch zu erfüllen, schickt der König seinen Vorreiter noch einmal los. Natürlich wieder unter Androhung der Todesstrafe. Ferenand verfährt mit den Riesen und Vögeln wie beim erstenmal und holt die Schriften. Auf der Rückfahrt fällt ihm seine Schreibfeder ins Wasser, was ihn verzweifeln lässt. Doch der Fisch, den er einst gerettet hat, bringt sie ihm wieder.

Nun steht der Hochzeit nichts mehr im Wege. Doch die Königin mag ihren Mann nicht leiden (weil er keine Nase hat!). Ferenand getrü, ihr Retter, gefällt ihr viel besser. Zum Glück kann sie ein bisschen zaubern. Vor dem versammelten Hofstaat erklärt sie, sie könne jemandem den Kopf abhacken und ihn anschließend problemlos wieder aufsetzen. Natürlich will keiner der Erste sein, an dem die Königin ihr Kunststück vorführen kann. Der heimtückische Ferenand ungetrü flüstert dem König ein, Ferenand getrü solle es wagen. Dem bleibt nichts anderes übrig, doch zu seinem Glück beherrscht die Königin das Kunststück tatsächlich. Nur ein roter Faden um seinen Hals zeugt anschließend davon, dass sein Kopf kurzzeitig vor seinen Füßen lag.

Der König staunt. Und die Königin fragt scheinheilig, ob sie es nun auch einmal an ihm ausprobieren soll? Der König ist einverstanden. Doch nachdem der Kopf ab ist, will es der Königin einfach nicht gelingen, ihn wieder zu befestigen. Also wird der König begraben und die Königin heiratet Ferenand getrü.

Mit seinem Schimmel bleibt Ferenand eng verbunden. Eines Tages bittet der Schimmel, ihn auf einer anderen Heide zu reiten. Nachdem Ferenand dreimal im Kreis gelaufen ist, verwandelt sich der Schimmel in einen Königssohn.

Motive, ähnliche Märchen

Der Anfang des Märchens, die Suche eines armen Mannes nach einem Paten, erinnert an das Märchen vom Gevatter Tod. Da der schließlich gefundene Pate übernatürliche Kräfte besitzt, entsteht eine gewisse Erwartung, dass er, ähnlich wie der Gevatter Tod, eine wichtige Rolle im weiteren Verlauf spielt. Doch der Pate taucht nach der Übergabe des wichtigen Schlüssels nicht wieder auf, und das Märchen nimmt eine andere Wendung.

Der zweite Teil beginnt mit dem Auszug des Jungen in die große, weite Welt. Hier gibt es Anklänge an das weit verbreitete Motiv, dass sich der Held für bevorstehende Aufgaben zunächst Gegenstände mit Zauberkraft und/oder die Unterstützung magischer Helfer sichert (siehe z.B. Die Bienenkönigin, Die weiße Schlange). Jedoch ist für den Fortgang weder die als geheimnisvoll eingeführte Schreibfeder, noch der gerettete Fisch von Bedeutung. (Da der Held nie von der Feder Gebrauch macht, bleibt unklar, weshalb er wegen des Verlust verzweifelt ist. Folglich spielt es auch keine Rolle, dass der Fisch sie ihm wiederbringt.)

Dagegen offenbart sich die Natur des Schimmels als magischer Helfer und zentrale Figur neben dem Märchenhelden in diesem Teil allenfalls andeutungsweise. Die Stimme, die den Jungen mahnt, die Feder aufzuheben, mag mit Blick auf das spätere Geschehen als die des Schimmels interpretiert werden. Klargestellt wird dies jedoch nicht, vor allem merkt der Held erst sehr viel später, dass sein Pferd sprechen kann. Anstatt einen dritten magischen Verbündeten zu gewinnen (ob Gegenstand oder Tier), wie dies üblicherweise bei diesem Motiv der Fall ist, begegnet der Held am Ende des zweiten Teils dem zwielichtigen Ferenand ungetrü. Diese Begegnung bildet die Überleitung zum dritten Teil, den man den eigentlichen Kern des Märchens nennen kann.

Am Hof des Königs intrigiert Ferenands Namensvetter und vermeintlicher Freund gegen ihn. Dieses Intrigieren scheint aber nur die Funktion zu haben, die Verbindung zwischen dem Helden und dem übernatürlichen Geschenk des Paten herzustellen. Denn erst in der Not hört der Held sein Pferd sprechen. Das Motiv des sprechenden Pferdes erscheint am ausgeprägtesten in dem Märchen Die Gänsemagd. Dort erinnert das (tote) Pferd Falada die zur Magd degradierte Königstochter an ihre Herkunft und Ehre. Die Rolle des Ferenand ungetrü übernimmt dort die Zofe, die am Ende ihr schändliches Tun mit dem Leben bezahlt. Das vorliegende Märchen dagegen nimmt auch zum Schluss noch eine überraschende Wendung. Denn nicht der Verderber, sondern der König verliert seinen Kopf.

Im dritten und wichtigsten Teil holt der Held im Auftrag des Königs die Prinzessin. Vieles davon erinnert an den entsprechenden Teil in dem Märchen Das Wasser des Lebens (Meeresfahrt; Ungeheuer, die durch Speisen zu besänftigen sind; Zauberschloss). Dort gibt es durch die betrügerischen Brüder des Helden ein starkes retardierendes Moment; dagegen wirkt die hier eingeflochtene zweite Überfahrt vergleichsweise blass. Auf die unklare Bedeutung der Schreibfeder und des Fischs wurde schon hingewiesen. Noch rätselhafter erscheinen die Schriften der Prinzessin, die sie so schmerzlich vermisst, dass damit die zweite Überfahrt motiviert wird.

Zum Schluss stellt sich heraus, dass der Schimmel des Helden ein verzauberter Königssohn war. Dies erinnert an das Ende des Märchens Der goldene Vogel, zu dem es auch sonst einige Parallelen gibt. (Dort ist das hilfreiche Tier ein Fuchs.) Die Erwartung, dass am Ende das Geheimnis um den Paten gelüftet wird, erfüllt sich nicht. Auch wird das Verhältnis des Helden zu seinem Gegenspieler, Ferenand ungetrü, nicht aufgeklärt. Dass dieser am Ende nicht bestraft wird, sondern stattdessen der König sterben muss, wirft Fragen auf. Ist seine Charakterisierung als Gegenspieler überhaupt treffend? Hat er nicht seinen Teil zum Aufstieg des Helden beigetragen? Gibt es eine Verbindung zwischen ihm, dem Paten und dem Pferd?

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